Heft 2/2023 (März 2023)

Aktuelles Heft

Abhandlungen

H.-P. Mansel/K. Thorn/R. Wagner
Europäisches Kollisionsrecht 2022: Bewegung im internationalen Familienrecht 109

Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Brüsseler Entwicklungen auf dem Gebiet der Justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Zeit von Januar 2022 bis Dezember 2022. Er gibt einen Überblick über die neu erlassenen Rechtsakte und berichtet über aktuelle Projekte sowie neue Instrumente, die sich zurzeit im EU-Gesetzgebungsverfahren befinden und informiert über die deutsche Begleit- und Durchführungsgesetzgebung zu neuen EU-Instrumente. Des Weiteren werden die Bereiche angesprochen, in welchen die EU von ihrer Außenkompetenz Gebrauch gemacht hat. Ausführlich besprochen werden sowohl wichtige Entscheidungen und anhängige Verfahren vor dem EuGH als auch wichtige Entscheidungen deutscher Gerichte, die den Gegenstand des Artikels betreffen. Auch werden aktuelle Projekte und die neuesten Entwicklungen bei der Haager Konferenz für internationales Privatrecht skizziert.

Entscheidungsrezensionen

N. Elsner/H. Deters:
Postzustellung im Parteibetrieb nach der EuZustVO – das Gericht als Übermittlungsstelle 146

Mit seiner Entscheidung vom 3.11.2021 reiht sich das OLG Frankfurt in die Reihe derjenigen ein, die eine Möglichkeit der Postzustellung nach Art. 14 EuZustVO 2007 im Parteibetrieb verneinen. Eine Postzustellung im Parteibetrieb ist allerdings nicht bereits dadurch ausgeschlossen, dass eine Postzustellung über Gerichte als Übermittlungsstellen nach § 1069 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. Art. 2 Abs. 1 EuZustVO 2007 zu erfolgen hat. Vielmehr können Parteien das Gericht als bloße Übermittungsstelle in seiner Justizverwaltungsfunktion und nicht als Organ der Rechtsprechung tätig werden lassen

S. Schwemmer:
Deliktische Direktansprüche der Gläubiger einer insolventen Enkelgesellschaft gegen die ausländische Großmuttergesellschaft 149

In seinem Urteil vom 10. März 2022 (Rechtssache C-498/20 - ZK./.BMA Nederland) hatte sich der EuGH erneut mit einer sogenannten Peeters/Gatzen-Klage des Insolvenzverwalters nach niederländischem Recht zu befassen. Das Gericht hatte bereits in einem früheren Urteil entschieden, dass diese Ansprüche unter die Brüssel Ia-Verordnung fallen. Die entscheidende Frage war nun, wo das schädigende Ereignis im Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung eingetreten ist. Der EuGH entscheidet sich für den Sitz des insolventen Unternehmens und stützt seine Analyse auf die Unterscheidung zwischen Primär- und Folgeschäden. Die gleiche Analyse wird auch zur Bestimmung des anwendbaren Rechts nach der Rom II-Verordnung herangezogen. In diesem Zusammenhang prüft der EuGH jedoch genauer die konkrete Sorgfaltspflichtverletzung, um festzustellen, ob der Anspruch in den Anwendungsbereich der Rom II-Verordnung oder in den des internationalen Gesellschaftsrechts fällt.

A. Kronenberg:
Unliebsames Eingriffsrecht und tatsächliche Unmöglichkeit 155

Nach dem Oberlandesgericht Frankfurt a.M. im Jahr 2018 hatte knapp zwei Jahre später auch das OLG München über eine Klage eines Israelis gegen Kuwait Airways zu entscheiden. Der Kläger hatte verlangt, gemäß dem zwischen den Parteien geschlossenen Beförderungsvertrag von München nach Sri Lanka mit Zwischenstopp in Kuwait-Stadt geflogen zu werden. Das OLG München wies die Klage mit Hinweis auf ein kuwaitisches Israel-Boykottgesetz ab. Obwohl es nicht anwendbar war, führe dieses Gesetz dazu, dass es der beklagten Fluggesellschaft tatsächlich unmöglich sei, israelische Staatsangehörige mit einem Zwischenstopp in Kuwait zu befördern. Das Urteil zeigt, wie in Fällen der sachrechtlichen Berücksichtigung missbilligter ausländischer Eingriffsnormen das rechtlich gebotene Ergebnis im Widerspruch zum unbefangenen Judiz stehen kann. Dieses Ergebnis hängt jedoch von den Umständen des Einzelfalles sowie von bestimmten Voraussetzungen ab, die bei der sachrechtlichen Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen zu beachten sind. Der Beitrag legt diese Voraussetzungen dar und zeigt auf, warum im Fall des OLG München die Beklagte wahrscheinlich zur Leistung hätte verurteilt werden müssen. Er erläutert auch, warum man an dem Ergebnis der Klageabweisung in Fällen, in denen eine tatsächliche Unmöglichkeit wirklich besteht, wohl auch durch den Erlass eines blocking statute nicht vorbeikommen wird.

C. Thomale/C. Lukas:
Die scheinbritische Einpersonen-Limited 162

Im Besprechungsfall hat das OLG München entschieden, dass eine Einpersonen-Limited britischen Rechts mit Verwaltungssitz in der Bundesrepublik nach deutschem Kollisions- und Sachrecht weder rechts- noch parteifähig ist. Die Besprechung analysiert die Bedeutung dieser Entscheidung für des Gesellschaftskollisionsrecht, insbesondere für die Auslegung des Trade and Cooperation Agreement EU – UK (TCA) und die Anwendung der sogenannten modifizierten Sitztheorie.

M. Brinkmann:
Im Ausland erteilte Restschuldbefreiung und späteres Erkenntnisverfahren im Inland: Rechtskraft sticht Wirkungserstreckung! 169

In einem anderen Mitgliedstaat erlangte Restschuldbefreiungen wirken nach Art. 20 EuInsVO 2020 in allen anderen Mitgliedstaaten. Das OLG Düsseldorf hatte über die Frage zu entscheiden, ob eine im Ausland erteilte Restschuldbefreiung auch dann einer Verurteilung zur Zahlung entgegensteht, wenn nach der Restschuldbefreiung in Betreff der Forderung ein Feststellungsurteil ergangen ist, mit dem die Zahlungspflicht des Beklagten trotz der Restschuldbefreiung rechtskräftig feststellt gestellt wurde. Zu diesem Feststellungsurteil, bei dessen Erlass die zuvor im Ausland erteilte Restschuldbefreiung nicht berücksichtigt wurde, war es gekommen, weil der Beklagte im Verfahren säumig gewesen war und sich daher nicht auf die discharge berufen hatte.

Das OLG Düsseldorf entschied, dass die Rechtskraft des Feststellungsurteils den Beklagten daran hindere, sich zur Verteidigung gegen die Leistungsklage auf die discharge zu berufen. Der Beitrag stimmt diesem Ergebnis zu und beleuchtet die Wirkungserstreckung nach der EuInsVO und das Verhältnis zur Rechtskraft eines Feststellungsurteils näher.

M. Andrae:
Änderung oder Einstellung der Vollstreckung einer Entscheidung nach Art. 12 HKÜ? 172

In dem Beitrag wird erörtert, welche verfahrensrechtlichen Möglichkeiten bestehen, wenn nach Rechtskraft einer Entscheidung gemäß Art. 12 HKÜ Umstände eintreten, die die Ablehnung eines Antrags auf Rückgabe des Kindes begründen würden. Ein Verfahren zur Abänderung der Entscheidung ist nur zulässig, wenn hierfür die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte besteht. Diese bestimmt sich für Entführungen aus EU-Mitgliedstaaten (Ausnahme Dänemark) grundsätzlich nach Art. 9 Brüssel IIb-VO und für Entführungen aus anderen KSÜ-Vertragsstaaten nach Art. 7 KSÜ. Solange die Zuständigkeit danach bei den Gerichten des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes vor der widerrechtlichen Verbringung oder Zurückhaltung liegt, sind die deutschen Gerichte auf die Anordnung der einstweiligen Einstellung der Vollstreckung beschränkt.

Rezensierte Entscheidungen

13 OLG Frankfurt – 3.11.2021 – 6 W 95/21 Postzustellung im Parteibetrieb nach der EuZustVO – das Gericht als Übermittlungsstelle [N. Elsner/H. Deters, S. 146] 176

14 EuGH – 10.3.2022 – Rs. C-498/20 Deliktische Direktansprüche der Gläubiger einer insolventen Enkelgesellschaft gegen die ausländische Großmuttergesellschaft [S. Schwemmer, S. 149] 177

15 OLG München – 24.6.2020 – 20 U 6415/19 Unliebsames Eingriffsrecht und tatsächliche Unmöglichkeit [A. Kronenberg, S. 155] 182

16 OLG München – 5.8.2021 – 29 U 2411/21 Kart Die scheinbritische Einpersonen-Limited [C. Thomale/C. Lukas, S. 162] 186

17 OLG Düsseldorf – 16.2.2022 –18 U 4/21 Im Ausland erteilte Restschuldbefreiung und späteres Erkenntnisverfahren im Inland: Rechtskraft sticht Wirkungserstreckung! [M. Brinkmann, S. 169] 188

18 OLG Hamm– 13.7.2021 – 11 UF 71/21 Änderung oder Einstellung der Vollstreckung einer Entscheidung nach Art. 12 HKÜ? [M. Andrae, S. 172] 192

Blick ins Ausland

J. Oster:
Gefällt Facebook nicht: Die Zähmung eines Datenriesen durch Internationales Datenschutz-Privatrecht 198

Ebenso wie die Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG leidet die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) an einem Vollstreckungsdefizit, das sowohl ihren hoheitlichen Vollzug als auch ihre privatrechtliche Durchsetzung betrifft. Dieses Defizit ist auch dem Umstand geschuldet, dass das europäische Datenschutzrecht noch immer viele Fragen hinsichtlich der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit und des anzuwendenden Rechts aufwirft. In dem hier besprochenen Zwischenurteil stellte die Rechtbank Amsterdam fest, dass sie für die Klage der niederländischen Datenschutz-Stiftung für behauptete datenschutz- und lauterkeitsrechtliche Verstöße von Facebook international zuständig sei und dass die DSGVO sowie niederländisches Datenschutz- und Deliktsrecht auf den Fall anwendbar seien. Der Beitrag stimmt der Rechtbank in ihren Ergebnissen zu, macht aber auch auf Schwächen in der Begründung durch die Rechtbank sowie auf ungeklärte Fragen des europäischen Internationalen Datenschutz-Privatrechts aufmerksam.

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