Inhalt des IPRax-Hefts 1/2012 (Januar 2012)

Abhandlungen

H.-P. Mansel/K. Thorn/R. Wagner
Europäisches Kollisionsrecht 2011: Gegenläufige Entwicklungen 1

Der Beitrag gibt einen Überblick über die Entwicklungen im europäischen Kollisionsrecht in Zivil- und Handelssachen zwischen November 2010 und Oktober 2011. Er berichtet über laufende Gesetzgebungsprojekte auf europäischer Ebene und bezieht die begleitenden deutsche Gesetzgebung mit ein. Der Artikel informiert über die aktuellen rechtspolitischen Entwicklungen und die Entscheidungen, Schlussanträge und Vorlagebeschlüsse in Verfahren vor dem EuGH im europäischen internationalen Privat- und Verfahrensrecht. Eingehender diskutiert werden sowohl einzelne EuGH-Entscheidungen, als auch einschlägige Entscheidungen deutscher Gerichte, insbesondere werden die gesetzgeberischen Aktivitäten und die Rechtsprechung zum sogenannten Anerkennungsgrundsatz kritisch gewürdigt. Auch werden aktuelle Projekte der Haager Konferenz vorgestellt.

C. F. Nordmeier
Stand, Perspektiven und Grenzen der Rechtslagenanerkennung im europäischen Rechtsraum anhand Entscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte 31

Jüngere EuGH-Rechtsprechung, zuletzt die Entscheidung Runevič-Vardyn, hat die Frage aufgeworfen, ob und unter welchen Umständen Rechtslagen im europäischen Rechtsraum aufgrund der Unionsbürgerrechte anzuerkennen sein können. Der vorliegende Artikel untersucht die Rezeption der EuGH-Judikate in der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten. Auf deren Grundlage kann gezeigt werden, dass die Anerkennung von Rechtslagen kein neues Phänomen ist. Die von einigen mitgliedstaatlichen Gerichten vorgenommene pauschale Verankerung der EuGH-Rechtsprechung in Art. 8 EMRK überzeugt nicht. Hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen der Unionsbürgerrechte werden das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs und die Entwicklung eines Spürbarkeitskriteriums thematisiert. Eine Ablösung des klassischen Verweisungsrechts durch einen Anerkennungsmechanismus ist im Ergebnis nicht zu empfehlen.

T. Rauscher
Von prosaischen Synonymen und anderen Schäden – Zum Umgang mit der Rechtssprache im EuZPR/EuIPR 40

EG/EU-Verordnungen zum IPR und IZPR (Brüssel I-VO, Rom-Verordnungen usw.) leiden an merklichen sprachlichen Problemen. Der Beitrag analysiert unterschiedliche Typen solcher Mängel, darunter die ungenaue Verwendung von Rechtsbegriffen (etwa der Begriff „Schaden“ bei Verwendung im Zusammenhang mit Ungerechtfertigter Bereicherung), bedeutungslose Tautologien (etwa die Verwendung der Begriffe „Schriftstück“ und „Dokument“, wo der englische Text durchweg von „document“ handelt), Redundanzen in verschiedenen Verordnungen unter Verwendung unklarer Abwandlungen des jeweiligen Wortlauts, oder schlicht unzutreffende Übersetzungen eines ursprünglich in einer der EU-Arbeitssprachen entwickelten Textes in andere offizielle EU-Sprachen.

Der Autor schlägt keinesfalls vor, das System der Vielfalt offizieller Sprachen zu ersetzen durch nur eine lingua franca als Rechtssprache. Es sollte jedoch deutlich mehr Augenmerk auf die Qualität der Normsetzung und den Übersetzungsvorgang gerichtet werden, einschließlich eines Zusammenwirkens von Juristen und Übersetzern hierbei, sowie von Kontrollmechanismen in vergleichenden Netzwerken. Nicht zuletzt erscheint es erwägenswert, zur Verbesserung der Schlüssigkeit des Gesamtkonzepts eine systematisch geordnete Kodifikation eines Europäischen Kollisionsrechts in Erwägung zu ziehen.

M. Günes/K. Freidinger
Gerichtsstand und anwendbares Recht bei Konsignationslager 48

Konsignationslager stellen eine von mehreren Möglichkeiten dar, den Zielmarkt zu erreichen. Insbesondere werden Konsignationsverträge als Transaktionsalternative für Märkte in Übersee genutzt. Obwohl solche Vereinbarungen regelmäßig einen internationalen Bezug aufweisen, wurden das anwendbare Recht und der Gerichtsstand für Streitigkeiten in diesem Zusammenhang im deutschen Recht noch nicht wissenschaftlich diskutiert. Nachdem die mögliche(n) Rechtsnatur(en) von Verträgen im Kontext von Konsignationslagerverträgen beurteilt wurde(n), legt der Aufsatz dar, dass in den meisten Fällen – sofern die Vertragsbedingungen nicht Abweichendes regeln – deutsches Internationales Privatrecht das Recht des Lagerortes für anwendbar erklären und das Gericht beim Lagerort für zuständig erklären würde, sofern eine Rechtsfrage bezüglich des Lagervertrags (Hauptvertrag) betroffen ist. Bezüglich eines einzelnen Kaufvertrages, welcher unter diesem Hauptvertrag geschlossen wurde, wird ein deutsches Gericht meistens das Recht des Sitzes des Verkäufers für anwendbar erklären und den Gerichtsort in der gleicher Weise bestimmen, wie es bei gewöhnlichen Verkaufsverträgen der Fall wäre. Diese Ergebnisse sind allerdings nicht zwingend. Daher ist es empfehlenswert, Konsignationslagerverträge zu schließen, bei denen ein besonderes Augenmerk auf das anwendbare Recht und den Gerichtsstand gelegt wird. Die Parteien, vor allem aber der Käufer, sollten hierbei bedenken, dass bezüglich Fragen betreffend Eigentum und Eigentumsvorbehalt eine Rechtswahl nicht möglich ist.

C. Luttermann/S. Geißler
Haftungsfragen transnationaler Konzernfinanzierung (cash pooling) und das Bilanzstatut der Gesellschaft 55

Wir betreten ein weitläufiges Kerngebiet internationaler Rechtspraxis und Jurisprudenz: Unternehmen werden finanziert in Konzernstrukturen aus Kapitalgesellschaften (juristischen Personen). Sie haben jeweils ein begrenztes „Vermögen“, das bilanzrechtlich zu bestimmen ist (Bilanzstatut). Damit geht es transnational um Haftungsfragen und insgesamt für eine angemessene Vermögensordnung um einen kollisionsrechtlichen Perspektivwechsel, wie gezeigt wird.

Entscheidungsrezensionen

D.-C. Bittmann
Ordnungsgeldbeschlüsse nach § 890 ZPO als ­Europäische Vollstreckungstitel? (BGH, S. 72) 62

In der besprochenen Entscheidung des BGH hat der Senat entschieden, dass Ordnungsgeldbeschlüsse nach § 890 ZPO nicht als EuVT bestätigt und grenzüberschreitend vollstreckt werden können. Für die Erteilung eines EuVT fehlt es an der Einhaltung der verfahrensrechtlichen Mindeststandards, insbesondere der Belehrung des Schuldners über die Möglichkeit, die Forderung zu bestreiten und die Konsequenzen eines Nichtbestreitens (Art. 17 EuVTVO).

Hingegen hält es der BGH für unbedenklich, dass es der Gläubiger ist und nicht der Staat – wie eigentlich nach deutschem Recht vorgesehen –, der das Ordnungsgeld im Zweitstaat letztlich durchsetzt. Dem tritt der Verfasser entgegen. Zwar ist der vom Senat herangezogene Gedanke der Gleichbehandlung der Gläubiger der Mitgliedstaaten grundsätzlich zu begrüßen. Doch findet dieser Grundsatz seine Grenze in dem aus dem Territorialitätsprinzip abgeleiteten Grundsatz, dass sich das Zwangsvollstreckungsrecht eines Staates nach dessen Rechtsordnung bestimmt. Eine grenzüberschreitende Durchsetzung eines deutschen Ordnungsgeldbeschlusses liefe dem letztlich zuwider. Darüber hinaus sind auch die übrigen Voraussetzungen zur Bestätigung eines Titels als EuVT nach hier vertretener Auffassung nicht gegeben, da das Ordnungsgeld nicht dem Gläubiger des Unterlassungsanspruchs, sondern dem Staat zusteht.

D. Schefold
Anerkennung von Banksanierungsmaßnahmen im EWR-Bereich (LG Frankfurt a.M., S. 75) 66

Das LG Frankfurt a.M. wies in seiner Entscheidung vom 7.5.2010 (2-27 0 231/ 09 ) in einem Widerspruchsverfahren einen Arrestantrag in das Vermögen einer Frankfurter Zweigstelle einer Bank mit Sitz in Island als unzulässig zurück, nachdem gegen die Bank Sanierungsmassnahmen in Island erlassen worden waren. Das Gericht entschied, dass für Banksanierungsmassnahmen die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaates bei einem Kreditinstitut mit Sitz in einem anderen Staat des EWR ausschließlich zuständig seien Dies ergebe sich aus § 46d Abs.5 S.1 KWG, der bei der Umsetzung der Richtlinie 2001/24 EG vom 4.4.2001 über die Sanierung und Liquidation von Kreditinstituten (ABl. (EG) L 125, 15) in das Kreditwesengesetz eingefügt wurde und der im Lichte von Art. 3 der Richtlinie 2001/24 EG auszulegen sei.

Die Richtlinie 2001/24 EG wurde vom EWR für anwendbar erklärt. Danach sind für Sanierungsmassnahmen bei einem Kreditinstitut und seinen Zweigstellen im EWR Bereich die Behörden oder Gerichte des Herkunftsmitgliedstaates ausschließlich zuständig. Sekundärsanierungsmassnahmen durch Behörden oder Gerichte eines weiteren Mitgliedstaates als des Herkunftsmitgliedstaates werden nach der Richtlinie 2001/24 EG ausgeschlossen. Nach Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/24 EG sind die im Herkunftsmitgliedstaat ergangenen Sanierungsmassnahmen im gesamten EWR Bereich ohne weitere Formalität uneingeschränkt wirksam und zwar auch gegenüber Dritten und sind anzuerkennen. Der Begriff Sanierungsmassnahmen wird in Art. 1 der Richtlinie 2001/24 EG definiert. Er umfasst insbesondere die Aussetzung von Zahlungen und den Ausschluss von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen.

Rezensierte Entscheidungen

1 BGH 25.05.2010 I ZB 116/08 Ordnungsgeldbeschlüsse nach § 890 ZPO als Europäische Vollstreckungstitel? [D.-C. Bittmann, S. 62] 72
2 LG Frankfurt a.M. 07.05.2010 2-27 O 231/09 Anerkennung von Banksanierungsmaßnahmen im EWR-Bereich [D. Schefold, S. 66] 75

Rechtsprechungsübersicht

3 OLG München 19.10.2010 31 Wx 51/10 Noterbrecht nach griechischem Recht des einzigen Sohnes eines in Deutschland 1. ansässigen und verstorbenen Auslandsgriechen. Die Rückkehr nach Griechenland zur Ableistung des Wehrdienstes 2. stellt jedenfalls dann eine Aufgabe des Wohnsitzes in Deutschland dar, wenn der Wehrpflichtige seinen Hausstand auflöst und die gesamte ­Familie nach Griechenland umzieht. [E. J.] 76

Blick in das Ausland

M. Pazdan
Das neue polnische Gesetz über das internationale Privatrecht 77
M. Melcher
Das neue österreichische Partnerschaftskollisionsrecht 82

Mit der Einführung des Rechtsinstituts der eingetragenen Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare wurde auch das österreichische IPRG um die §§ 27a–d erweitert, die das anwendbare Recht für die Beurteilung der Begründung, der persönlichen Rechtswirkungen, des Güterstands und der Auflösung eingetragener Partnerschaften bestimmen. Neben einer einführenden Diskussion des Anwendungsbereichs und der Darstellung des österreichischen Partnerschaftskollisionsrechts, dient die vorliegende Analyse auch einer kritischen Betrachtung des gewählten Anknüpfungssystems und seiner Auswirkungen. Dabei werden vor allem die Vielzahl der verwendeten Anknüpfungspunkte und die fehlende Berücksichtigung der Besonderheiten der eingetragenen Partnerschaft in den erb-, namens- und adoptionsrechtlichen Kollisionsregelungen als Schwachstellen des österreichischen Partnerschaftskollisionsrechts identifiziert.

P. F. Schlosser
Aus Frankreich Neues zum transnationalen einstweiligen Rechtsschutz in der EU (Cour de cassation, 8.3.2011 – 09-13830 und Cour de cassation, 4.5.2011 – 10-13712) 88

Der Verfasser berichtet über zwei Entscheidungen der französischen Cour de cassation (8.3.2011 – 09-13830 und 4.5.2011 – 10-13712, denen er im Wesentlichen zustimmt.

In der zweiten Entscheidung bestätigt die Cour ihre frühere Rechtsprechung, dass die Vorschriften der EuGVVO über einstweiligen Rechtsschutz auch auf Beweissicherungsmaßnahmen anwendbar sind, was in der deutschen Literatur häufig geleugnet wird. Konkret ging es um die Anwendbarkeit von Art 31 EuGVVO trotz einer ein italienisches Gericht vorsehenden Gerichtsstandsvereinbarung. Richtig ist jedoch auf dieser Prämisse von der Cour betont worden, eine solche Maßnahme müsse zur Beweissicherung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes dringend nötig gewesen sein.

In der ersten Entscheidung ging es um die transnationale Bindungswirkung einer Entscheidung des einstweiligen Rechtsschutzes. Ein griechisches Gericht hatte die Ausbringung eines Arrestes – verkürzt gesagt – über ein Seeschiff nach Einspruch gegen die erstinstanzliche Entscheidung abgelehnt. Als das Schiff später im Hafen von Rouen ankerte, versuchte es der Gläubiger noch einmal, indem er sich auf die leichteren Arrestvoraussetzungen des französischen Rechts berief. Die Cour de cassation ließ dies an der aus Art 32 EuGVVO hergeleiteten Bindungswirkung scheitern. Das Neuland, das die Cour, ohne es zu betonen, betrat besteht darin, dass auch Entscheidungen, die einstweiligen Rechtsschutz versagen, transnational anerkennungspflichtig sind. – und zwar anscheinend ohne die Einschränkungen, die der EuGH bezüglich des einstweiligen Rechtsschutzes sonst macht. Weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum war das bisher erörtert worden.

H. Wais
Zwischenstaatliche Zuständigkeitsverweisung im Anwendungsbereich der EuGVVO sowie Zuständigkeit nach Art. 24 S. 1 EuGVVO bei rechtsmiss­bräuchlicher Rüge der Unzuständigkeit (Hoge Raad, 7.5.2010 – 09/01115) 91

In der besprochenen Entscheidung des niederländischen Hoge Raad, dem Unterhaltsstreitigkeiten zwischen niederländischen Staatsbürgern mit Wohnsitz in Belgien zu Grunde liegen, sind im Wesentlichen drei Fragen angesprochen: Zum einen geht es um die Anwendbarkeit der EuGVVO, wenn beide Parteien ihren Wohnsitz in demselben Mitgliedsstaat haben, zum anderen darum, ob die Verordnung die Beachtung eines bilateralen Abkommen zwischen Mitgliedsstaaten zulässt, das die Möglichkeit grenzüberschreitender Verweisung vorsieht. Schließlich gilt es zu klären, inwieweit die EuGVVO es erlaubt, bei der Entscheidung über die Zuständigkeit einer Partei prozessmissbräuchliches Verhalten in Rechnung zu stellen. Der Beitrag beleuchtet die aufgeworfenen Fragen; im Anschluss werden Gedanken zu einem alternativen Lösungsansatz präsentiert.

C. Aulepp
Ein Ende der extraterritorialen Anwendung US-amerikanischenKapitalmarkthaftungsrechts auf Auslandstransaktionen? (US Supreme Court, 24.6.2010 – No. 08-1191 – Morrison v. National ­Australia Bank Ltd.) 95

Das US-amerikanische Recht sieht eine strenge Emittentenhaftung für fehlerhafte Kapitalmarktinformationen vor, insbesondere unter § 10(b) Securities Exchange Act of 1933 i.V.m. SEC Rule 10b-5. Diese Ansprüche können in Sammelverfahren (opt-out class actions) geltend gemacht werden. In der Vergangenheit haben US-Bundesgerichte § 10(b) bereits dann auf Auslandssachverhalte und auch auf im Ausland gehandelte Aktien angewendet, wenn signifikantes Verhalten in den USA oder signifikante Auswirkungen auf den amerikanischen Markt vorlagen. In seiner Grundsatzentscheidung Morrison v. National Australia Bank, Ltd., 130 S. Ct. 2869 (U.S. 2010) hob der U.S. Supreme Court diese Rechtsprechung auf. Er stellte klar, dass § 10(b) Securities Exchange Act und Rule 10b-5 keine extraterritoriale Reichweite besitzen. Nur Transaktionen in an US-amerikanischen Börsen gelisteten Wertpapieren und sonstige inländische Transaktionen unterliegen dieser Vorschrift. Der Autor argumentiert, dass die Morrison-Entscheidung einen Schritt in die richtige Richtung darstellt, da sie transnationalen Emittenten ein gewisses Maß an Rechtssicherheit gewährt. Es wird die These aufgestellt, dass die Entscheidung auch für das Gemeinschaftskollisionsrecht der EU wertvolle Impulse liefern kann. Gute Gründe sprechen dafür, den Verordnungen Rom I und Rom II im Wege der Auslegung eine dem Morrison-Urteil vergleichbare, transaktionsbasierte Kollisionsregel zu entnehmen.

Mitteilungen

H.-P. Mansel
Werner Lorenz zum 90. Geburtstag 102
E. Jayme
Zur Kodifikation des Allgemeines Teils des Europäischen Internationalen Privatrechts - 20 Jahre GEDIP (Europäische Gruppe für Internationales Privatrecht) - Tagung in Brüssel 103

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