Heft 3/2023 (Mai 2023)

Aktuelles Heft

Abhandlungen

Th. Pfeiffer
Judicial Presumptions: Finding of Facts or Application of Law? The characterization of so-called factual presumptions in private international law 217

This article discusses whether so-called factual presumptions and prima facie-evidence rules qualify as substantive or procedural rules for choice of law purposes. Having analyzed typical situations such as rear-end collisions and the use of standard terms as well as provisions in the Rome I and II Regulation, differentiated solution is submitted: Factual presumptions and prima facie evidence are to be qualified procedurally, unless they are exceptionally based on a specific substantive rationale and not on fact-related judicial experience.

D. Moura Vicente
The Role of the Brussels I-bis Regulation in European Private International Law and the Challenges Facing it 221

The 1968 Brussels Convention sought to promote mutual trust between Member States in jurisdictional matters by adopting uniform rules on judicial competence in civil and commercial matters, with a view to implementing a principle of automatic recognition of foreign judgments among them. Such rules could however be formulated only in respect of a limited number of subjects, which explains the Convention's relatively narrow scope of application. Over the half century since the Brussels Convention's conclusion, both its nature and that of the Regulations that succeeded it have changed substantially. From an instrument originally restricted to patrimonial matters, the Convention and its successor Regulations became the backbone of a system aimed at ensuring the free movement of judgments and judicial cooperation in a broad spectrum of matters. The Brussels I-bis Regulation has provided the conceptual foundations of the other instruments that integrate that system, which at times replicate its notions and rules or simply refer to it, thereby ensuring the system's coherence. The Regulation has moreover had a modernising effect on the domestic legal systems of its Member States. The Regulation's referential role in European Private International Law role nevertheless faces significant challenges arising inter alia from certain shortcomings of its substantive and subjective scope of application, as well as of the available heads of jurisdiction under its rules. It is submitted that these challenges, which this paper seeks to identify, call for a limited reform of the Regulation, the opportunity for which is provided by its review as foreseen in Article 79.

A. Dutta
Überlegungen zu einer Reform des (deutschen) internationalen Namensrechts 227

German private international law dedicates much (probably too much) attention to the names of persons. Based on earlier ideas for a European instrument on the law applicable to names and taking into account the current debate on German substantive law, the article argues for a unilateral reform of the current German conflict rules, in particular, for replacing nationality by habitual residence as the primary connecting factor and for a new approach to party autonomy.

T. Helms
Co-Elternschaft im IPR 232

German law of descent does not recognise co-parenthood between two women or two men. This article examines the conditions under which co-parenthood is nevertheless accepted in international cases on the basis of German Private International Law.

Entscheidungsrezensionen

M. Pika
Auf dem Weg zu einem europäischen Schiedsverfahrensrecht oder zu außereuropäischen Schiedsorten? (EuGH, Rs. C-700/20, S. 280) 238

In Prestige hat der EuGH entschieden, dass ein englisches Urteil, welches einen Schiedsspruch gemäß sect. 66(2) Arbitration Act 1996 bestätigt, eine „Entscheidung“ i.S.v. Art. 45(1) lit. c EuGVVO darstellt. Ferner entschied der EuGH, dass solch ein Bestätigungsurteil der Anerkennung eines unvereinbaren, späteren Urteils dennoch nicht entgegengehalten werden kann, wenn das Schiedsgericht (i.) die Rechtshängigkeitsgrundsätze der EuGVVO missachtet und/oder (ii.) die Schiedsvereinbarung übermaßig auf Dritte ausgedehnt hat. Seit West Tankers wurde die Bereichsausnahme für die Schiedsgerichtsbarkeit gemäß Art. 1(2) lit. d EuGVVO nicht mehr in diesem Ausmaß eingeschränkt.

T. Kindt
Der Pechstein-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – Eher mahnender Fingerzeig denn schallende Ohrfeige Richtung Lausanne (BVerfG, S. 285) 243

In einem anderen Mitgliedstaat erlangte Restschuldbefreiungen wirken nach Art. 20 EuInsVO 2020 in allen anderen Mitgliedstaaten. Das OLG Düsseldorf hatte über die Frage zu entscheiden, ob eine im Ausland erteilte Restschuldbefreiung auch dann einer Verurteilung zur Zahlung entgegensteht, wenn nach der Restschuldbefreiung in Betreff der Forderung ein Feststellungsurteil ergangen ist, mit dem die Zahlungspflicht des Beklagten trotz der Restschuldbefreiung rechtskräftig feststellt gestellt wurde. Zu diesem Feststellungsurteil, bei dessen Erlass die zuvor im Ausland erteilte Restschuldbefreiung nicht berücksichtigt wurde, war es gekommen, weil der Beklagte im Verfahren säumig gewesen war und sich daher nicht auf die discharge berufen hatte.

Das OLG Düsseldorf entschied, dass die Rechtskraft des Feststellungsurteils den Beklagten daran hindere, sich zur Verteidigung gegen die Leistungsklage auf die discharge zu berufen. Der Beitrag stimmt diesem Ergebnis zu und beleuchtet die Wirkungserstreckung nach der EuInsVO und das Verhältnis zur Rechtskraft eines Feststellungsurteils näher.

R. Geimer
Wahl der internationalen Zuständigkeit Deutschlands ohne (wirksame) Vereinbarung der örtlichen Zuständigkeit (LG Frankfurt a.M., S. 290) 251

Immer dann, wenn ein Mitgliedstaat international zuständig ist, ist dieser im Anwendungsbereich der EuGVVO zur Justizgewährung verpflichtet. Soweit die EuGVVO nur die internationale Zuständigkeit normiert, aber die örtliche Zuständigkeit nicht festlegt, muss der von der Verordnung als international zuständig erklärte Mitgliedstaat ein örtlich zuständiges Gericht zur Verfügung stellen. Zu Recht betont auch der EuGH die Pflicht zur Bereitstellung eines in der Sache zuständigen Gerichts, wenn ein Mitgliedstaat nach dem Kompetenzregime der Verordnung international zuständig ist.

Stellt das nationale Recht des nach Unionsrecht international zuständigen Mitgliedstaates kein örtlich zuständiges Gericht zur Verfügung, greift im Wege der ergänzenden Verordnungsauslegung gefundene Regel: Die Gerichte in der Hauptstadt des international zuständigen Mitgliedstaates sind örtlich zuständig.

Für die Begründung der ausschließlichen internationalen Zuständigkeit eines Mitgliedstaates gemäß Art. 25 Abs. 1 EuGVVO genügt, dass nach dem Willen der Parteien allein die Gerichte dieses Mitgliedstaates entscheiden sollen. Die Beifügung einer Vereinbarung über das örtlich zuständige Gericht ist nicht erforderlich. Das Gleiche gilt, wenn zwar eine solche Vereinbarung existiert, aber unwirksam ist, es sei denn, die Parteien haben ausdrücklich die Wirksamkeit der Vereinbarung über die internationale Zuständigkeit von der Wirksamkeit der Vereinbarung über das örtlich zuständige Gericht abhängig gemacht.

L. Hornkohl
Die internationalzivilprozessualen Folgen der unionskartellrechtlichen Konzernhaftung (EuGH, Rs. C-882/19, S. 294) 254

In der Rs. Sumal wandte der EuGH erstmals die Figur der wirtschaftlichen Einheit im Kartelldeliktsrecht für Konzernsachverhalte an. Eine Tochtergesellschaft haftet laut EuGH für die Kartellverstöße der Muttergesellschaft absteigend, wenn die Voraussetzungen der Figur der wirtschaftlichen Einheit vorliegen. Dafür ist zum einen erforderlich, dass Mutter und Tochter durch entsprechende wirtschaftliche, organisatorische und rechtliche Beziehungen verbunden sind, und zum anderen, dass ein Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit der Tochter und dem Gegenstand der Zuwiderhandlung der Mutter besteht. Bedeutung hat die Rechtsprechung in der Rs. Sumal vor allem im Bereich der internationalen und örtlichen Zuständigkeit für Kartellschadensersatzklagen. Sie gibt die Möglichkeit, einen jeden zur wirtschaftlichen Einheit gehörigen Rechtsträger gesamtschuldnerisch in Anspruch zu nehmen und bietet damit vor allem im Hinblick auf EU-weite Kartellabsprachen, Potential für forum shopping. Dabei sind vor allem drei Gerichtstände maßgeblich: der allgemeine Gerichtsstand, der Deliktsgerichtsstand und der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft.

C. Mayer
(Unechte) Vaterschaftskonkurrenzen im Internationalen Privatrecht (BGH und OLG Brandenburg, S. 300 und S. 305) 264

Immer wieder sind deutsche Gerichte mit Fällen konfrontiert, in denen infolge der alternativen Anknüpfungen in Art. 19 Abs. 1 EGBGB mehrere Rechtsordnungen auf die Abstammung eines Kindes anwendbar sind. Dies kann dazu führen, dass dem Kind unterschiedliche Väter zugewiesen werden. Der BGH hatte bereits mehrfach Gelegenheit, zu solchen Vaterschaftskonkurrenzen Stellung zu nehmen und Grundstrukturen zu entwickeln. Die hier zu besprechende BGH-Entscheidung betreffend eine nachgeburtliche Vaterschaftsanerkennung, die mit einer Vaterschaftsvermutung zusammentrifft, reiht sich nahtlos in die vorhandene Rechtsprechungslinie ein, wirft aber am Rande die interessante Frage auf, wo Neugeborene im Zeitpunkt der Geburt ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Das OLG Brandenburg musste dagegen die schwierigere Konstellation klären, ob eine vorgeburtliche Vaterschaftsanerkennung gegenüber einer aus ausländischem Recht resultierenden Abstammungsvermutung Vorrang haben kann, obwohl beide gleichzeitig mit der Geburt wirksam werden.

D. Henrich
Zur Anerkennung von außergerichtlichen Ehescheidungen (EuGH, Rs. C-646/20, OLG Braunschweig, S. 306 und S. 310) 268

Die Anerkennung außergerichtlicher Ehescheidungen ist seit der Einführung der Ehescheidung vor dem Standesbeamten in Italien ein aktuelles Thema. In Deutschland war die Frage, ob solche Scheidungen anerkannt werden können, von Anfang an umstritten. Die Brüssel IIa-VO sprach von der Anerkennung von „Entscheidungen“ (Art.21 EGBGB). Art.2 Nr.4 der VO definierte als „Entscheidung“ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung über die Ehescheidung. Eine verbreitete Meinung lehnte die Anerkennung solcher „Privatscheidungen “ mangels einer Entscheidung ab. Eine Gegenmeinung sprach sich für die Anerkennung aus unter Berufung auf Erwägungsgrund (21) der Brüssel IIa-VO, wonach die Anerkennung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhe und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein sollten.  Auf den Vorlagebeschluss des BGH, der selbst der erstgenannten Meinung zuneigte, entschied  sich der EuGH für eine Erweiterung des Begriffs der „Entscheidung“: Auch eine von einem Standesbeamten des Ursprungsmitgliedstaats errichtete Scheidungsurkunde, die eine Vereinbarung der Ehegatten über die Ehescheidung enthält, die sie vor dem Standesbeamten getreu den in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen bestätigt haben, stellt eine Entscheidung dar und ist darum anzuerkennen. Allgemein formuliert heißt das: Auch Ehescheidungen in einem außergerichtlichen Verfahren sind in anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen, wenn das Recht des Ursprungsmitgliedstaats solche Ehescheidungen gesetzlich zugelassen hat.

In der Entscheidung des OLG Braunschweig geht es um die Anerkennung einer iranischen Entscheidung, die zwar islamischer Tradition entsprechend von einem Ehegatten ausgesprochen wird, aber nur ausgesprochen werden kann, wenn zuvor ein Gericht die Unmöglichkeit einer Versöhnung festgestellt hat. Dieser gerichtlichen Feststellung hat das Gericht konstitutive Bedeutung beigemessen und darum die Voraussetzungen einer Anerkennung als gegeben erachtet.

P. Scholz
Pflichtteil und ordre public (OGH, und BGH, S. 312 und S. 316) 273

In nahezu allen Rechtsordnungen wird die Testierfreiheit durch zwingende Regeln zum Angehörigenschutz beschränkt. Zwischen den Jurisdiktionen bestehen indes nicht nur Unterschiede bezüglich der in den Schutzbereich solcher Regelungen einbezogenen Angehörigen. Vielmehr haben sich historisch verschiedene Systeme des zwingenden Angehörigenschutzes herausgebildet – und diese reichen von einer zwingenden Nachlassteilhabe (wie in Österreich, Deutschland oder Frankreich) bis zu bedarfsabhängigen Ansprüchen naher Angehörigen nach richterlichem Ermessen (wie in England oder Neuseeland). Unter dem Rechtswahlregime der EU-Erbverordnung kann und wird es letztlich dazu kommen, dass Gerichte in Staaten mit bedarfsunabhängiger Nachlassteilhabe darüber entscheiden, ob die Anwendung bedarfsabhängiger Regeln eines ausländischen Erbrechts gegen den ordre public verstößt, wenn das ausländische Recht in concreto keine hinreichenden Ansprüche gewährt. Mit seinem Urteil vom 2. Februar 2021 hat sich der österreichische Oberste Gerichtshof gegen solche Ideen positioniert. Im deutschen Recht ist die Frage ungeklärt, seit das BVerfG das geltende Pflichtteilsrecht im Jahr 2005 verfassungsrechtlich abgesichert hat. Das OLG Köln hat vor diesem Hintergrund mit Urteil vom 22. April 2021 den ordre public-Verstoß bejaht — und damit womöglich einer Grundsatzentscheidung des BGH den Weg bereitet. Der Beitrag zeigt auf, warum eine solche durch den Beschluss des BVerfG nicht präjudiziert ist.

Rezensierte Entscheidungen

20 EuGH 20.6.2022 Rs. C-700/20 Auf dem Weg zu einem europäischen Schiedsverfahrensrecht oder zu außereuropäischen Schiedsorten? [M. Pika, S. 238] 280

21 BVerfG 3.6.2022 1 BvR 2103/16 Der Pechstein-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts – Eher mahnender Fingerzeig denn schallende Ohrfeige Richtung Lausanne [T. Kindt, S. 243] 285

22 LG Frankfurt a.M. 1.12.2020 – 3-09 O 78/18 Wahl der internationalen Zuständigkeit Deutschlands ohne (wirksame) Vereinbarung der örtlichen Zuständigkeit [R. Geimer, S. 251] 290

23 EuGH 6.10.2021 Rs. C-882/19 Die internationalzivilprozessualen Folgen der unionskartellrechtlichen Konzernhaftung [L. Hornkohl, S. 254] 294

24 BGH 12.1.2022 XII ZB 562/20 (Unechte)Vaterschaftskonkurrenzen im Internationalen Privatrecht [C.Mayer, S. 264) 300

25 OLG Brandenburg 18.1.2022 7W 117/21 [C.Mayer, S. 264) 305

26 EuGH 15.11.2022 Rs.C-646/20 Zur Anerkennung von außergerichtlichen Ehescheidungen [D.Henrich, S. 268) 306

27 OLG Braunschweig 10.10.2022 5VA 1/22 [D.Henrich, S. 268) 310

28 OGH 25.2.2021 2 Ob 214/20i Pflichtteil und ordre public [P. Scholz, S. 273] 312

29 BGH 29.6.2022 IV ZR 110/21 [P. Scholz, S. 273] 316

 

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