Heft 1/2020 (Januar 2020)

Abhandlungen

H. Schack:
Das neue Haager Anerkennungs- und Vollstreckungsübereinkommen 1

Der Beitrag stellt das von der Haager Konferenz für IPR am 2.7.2019 beschlossene Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen in Zivil- oder Handelssachen (HAVÜ) vor. Es ergänzt als Convention simple mit einer Liste positiver Anerkennungszuständigkeiten das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen von 2005. Angesichts des stark eingeschränkten sachlichen Anwendungsbereichs und einschneidender Vorbehalte, insbesondere einer "bilatéralisation" in Art. 29, hält sich der Nutzen des HAVÜ in Grenzen. Die EU sollte es auf keinen Fall vor den USA ratifizieren.

Entscheidungsrezensionen

F. Eichel:
Zur Rolle des Streithelfers bei der Begründung grenzüberschreitender Sachverhalte als Voraussetzung Europäischen Zivilverfahrensrechts (EuGH, S. 30) 7

Die VO Nr. 861/2007 (Small-Claims-VO; EuBagatellVO; EuGFVO) setzt einen grenzüberschreitenden Bezug voraus. In der Rs. ZSE Energia hat der EuGH entschieden, dass es dafür nicht ausreicht, wenn einzig ein Streithelfer in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässig ist, obwohl es sich im Übrigen um einen reinen Inlandssachverhalt handelt. Der folgende Beitrag stimmt diesem Ergebnis zu, kritisiert aber die Begründung, in der der EuGH die Beteiligung eines Streithelfers im Small-Claims-Verfahren für schlechthin unzulässig erklärt. Außerdem analysiert der Beitrag die Folgen der EuGH-Entscheidung für andere Rechtsakte wie die EuMahnVO (VO Nr. 1896/2006), die Europäische Kontenpfändungsverordnung (VO Nr. 655/2014), die PKH-Richtlinie (RL 2002/8/EG) und die Mediations-Richtlinie (RL 2008/52/EG), die ebenfalls einen grenzüberschreitenden Sachverhalt voraussetzen.

C.A. Kern/C. Uhlmann:
Der Zeitpunkt des Eintritts der Sperrwirkung unter der EuGVVO (BGH, S. 32) 12

Nach dem Übernahmeversuch von VW durch Porsche kündigte ein auf den Kaimaninseln beheimateter Investor an, die Porsche SE vor dem High Court of England and Wales zu verklagen. Wahrscheinlich, um in den Genuss eines inländischen Gerichtsstands zu gelangen, reichte Porsche eine negative Feststellungsklage beim Landgericht Stuttgart ein. Die Klage konnte dem Investor jedoch wegen unzureichender Adressangaben in der Klageschrift nicht zugestellt werden. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass Porsche damit die Voraussetzungen des Art. 30 Nr. 1 EuGVVO 2001 (Art. 32 Nr. 1 lit. a EuGVVO 2012) nicht erfüllt habe, und gab ferner dem Beschwerdegerichtgericht zur Prüfung auf, ob schon mit dem vom Investor verschickten „letter before claim" eine Sperrwirkung zugunsten des Verfahrens in England eingetreten sei. Die Autoren stimmen den strengen Anforderungen an den Kläger zu, zweifeln aber daran, dass ein „letter before claim" ausreicht, um eine Sperrwirkung englischer Gerichte nach der EuGVVO annehmen zu können.

C. Thomale:
Die internationalprivatrechtliche Behandlung von Wohnungseigentümergemeinschaften (EuGH, S. 40) 18

In seiner jüngeren Entscheidung in Sachen Postnov hat der EuGH sich zum Zuständigkeitsrecht und zum Kollisionsrecht der Beitragspflichten von Miteigentümern an eine Wohneigentümergemeinschaft verhalten. Die Besprechung analysiert diese Entscheidung und geht dabei insbesondere auf das Verhältnis von Zuständigkeitsrecht und Kollisionsrecht, den Dienstleistungsbegriff von Brüssel Ia-Vo und Rom I-VO sowie den Gesellschaftsrechtsausschluss nach Art. 1 Abs. 2 lit. f) Rom I-VO ein.

H. Roth:
Zur Beweiskraft der Bescheinigungen nach Art. 54 EuGVVO 2001 und nach Art. 53 EuGVVO 2015 (BGH, S. 43) 21

Die Beweiskraft beider Bescheinigungen wird durch das europäische Prozessrecht im Sinne einer bloßen Auskunft des Ursprungsgerichts festgelegt. Im jeweils zweiten Verfahrensabschnitt der Überprüfung von Anerkennungshindernissen (Rechtsbehelfsverfahren oder Versagung der Vollstreckung) hat also das Gericht des Vollstreckungsstaates die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des Zustellungszeitpunktes selbstständig zu überprüfen.

M. Brosch:
Der materiell-rechtliche ordre public im internationalen Familien- und Erbrecht: Nationale Perspektiven abseits der Europäisierung im IPR (KG, S. 44 und OGH, S. 47) 24

Die seltenen Entscheidungen zum materiell-rechtlichen ordre public betreffen häufig das internationale Familienrecht. Das Kammergericht Berlin und der österreichische OGH setzten sich in den hier besprochenen Beschlüssen mit der Vereinbarkeit einer libanesischen eherechtlichen Entscheidung bzw. der Anwendung des iranischen Erbrechts auseinander. Wenngleich dem gefundenen Ergebnis zuzustimmen ist, geben die Entscheidungen Anlass zur Diskussion über weitergehende kollisionsrechtliche Fragestellungen. Sie verdeutlichen außerdem zwei entgegengesetzte Tendenzen: Im Europäischen Kollisionsrecht limitiert die Bevorzugung des forum-ius-Gleichlaufs und die objektive Aufenthaltsanknüpfung die Reichweite des ordre public. Ein Anwendungspotential des ordre public ergibt sich hingegen im Wege der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit im nationalen IPR und bei vorrangigen staatsvertraglichen Kollisionsnormen.

Rezensierte Entscheidungen

1 EuGH 22.11.2018 Rs. C-627/17 Zur Rolle des Streithelfers bei der Begründung grenzüberschreitender Sachverhalte als Voraussetzung Europäischen Zivilverfahrensrechts [F. Eichel, S. 7] 30
2 BGH 13.9.2016 Rs. C-337/17 Der Zeitpunkt des Eintritts der Sperrwirkung unter der EuGVVO [C.A. Kern/C. Uhlmann, S. 12] 32
3 EuGH 8.5.2019 Rs. C-25/18 Die international-privatrechtliche Behandlung von Wohnungseigentümergemeinschaften [C. Thomale, S. 18] 40
4 BGH 26.4.2018 IX ZB 15/16 Zur Beweiskraft der Bescheinigungen nach Art. 54 EuGVVO 2001 und nach Art. 53 EuGVVO 2015 [H. Roth, S. 21] 43
5, 6 KG, OGH 26.2.2019, 29.1.2019 1 W 561-564/17, 2 Ob 170/18s Der materiell-rechtliche ordre public im internationalen Familien- und Erbrecht: Nationale Perspektiven abseits der Europäisierung im IPR [M. Brosch, S. 24] 44, 47
7, 8 OGH 20.9.2017, 14.8.2018 3 Ob 104/17s, 3 Ob 45/18s Ermittlung ausländischen Sachrechts in beschleunigten Verfahren vor österreichischen Gerichten [B. Lurger, S. 67] 50,54

Blick ins Ausland

E.-M. Kieninger:
Vedanta v Lungowe: Ein Meilenstein für Klagen gegen europäische Konzernmütter für Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen durch drittstaatliche Tochtergesellschaften 60

Mit seiner Entscheidung vom 10.4.2019 in der Sache Vedanta v Lungowe erkennt das oberste Gericht des Vereinigten Königreichs zum ersten Mal die internationale Zuständigkeit für verbundene Klagen gegen eine englische Muttergesellschaft (Vedanta Resources plc) und ihre in einem Drittstaat (in diesem Fall in Sambia) ansässige Tochtergesellschaft (Konkola Copper Mines plc) für von der Tochter vor Ort angerichtete Umweltschäden an. Die Entscheidung wird wegweisend für weitere, gleichgelagerte Verfahren vor englischen Gerichten sein, etwa denjenigen gegen Royal Dutch Shell wegen der Ölverschmutzung und ihren Folgen für Mensch und Natur im Nigerdelta (Okpabi v Royal Dutch Shell). Die Begründung des Supreme Court enthält zudem wichtige Hinweise für eine mögliche materiell-rechtliche Haftung von Konzernobergesellschaften für durch Auslandstöchter verursachte Schäden.

B. Lurger:
Ermittlung ausländischen Sachrechts in beschleunigten Verfahren vor österreichischen Gerichten (OGH, S. 50 und 54) 67

In einem langwierigen Verfahren, das 2014 am Bezirksgericht Wien Döbling eingeleitet worden war, verlangte die Ehefrau Unterhaltszahlungen von ihrem Ehemann. Der österreichische OGH beschäftigte sich mit den besonderen Bedingungen der Anwendung ausländischen Rechts in beschleunigten Verfahren (Antrag auf einstweilige Verfügung). Der Gerichtshof klärte zunächst die Auslegung von Art. 5 HUP (Haager Unterhaltsprotokoll) in Hinblick auf ein anhängiges Scheidungsverfahren zwischen den Parteien, in dem österreichisches Recht angewendet wurde, während der gewöhnliche Aufenthalt der Klägerin in Großbritannien lag. Der OGH vertritt die Auffassung, dass die Frage der Anwendung ausländischen Recht (die IPR-Frage) im Regelfall ohnedies ohne größeren Aufwand – und daher auch in beschleunigten Verfahren – beantwortet werden kann. Im nächsten Schritt müssen die unterinstanzlichen Gerichte den Inhalt des ausländischen Rechts mit angemessenen Mitteln und Aufwand zu ermitteln versuchen. Wie in regulären Verfahren, treffe die Parteien auch hier keine Pflicht, das Gericht bei dieser Ermittlung zu unterstützen. Angesichts der speziellen Umstände des Falles, die im besonderen Reichtum der Parteien und in den bereits seit Jahren die Instanzen hinauf- und hinuntergehenden Verfahren zwischen ihnen bestanden, gelangte der OGH zum Schluss, dass die Anwendung englischen Rechts durch die österreichischen Gerichte auch im Provisorialverfahren zumutbar bar.

Mitteilungen

E. Jayme:
Internationales Privatrecht und Völkerrecht: Spannungen und Dialoge – 79. Session des Institut de Droit International in Den Haag 77
M. Gernert:
Neue Richtlinien des russischen Supreme Court zum internationalen Wirtschaftsrecht 78
L. Rademacher:
Effizienz und Kohärenz bei der grenzüberschreitenden Forderungsdurchsetzung in der EU: 2. Tagung zum Forschungsprojekt „Informed Choices in Cross-Border Enforcement – IC2BE“, Freiburg, 10./11.10.2019 85
M. Menne:
Grenzüberschreitende richterliche Kooperation im internationalen Familienrecht und Verbindungsrichter 86
J.P. Teubel:
Rolf Wagner zum 65. Geburtstag 90

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