Heft 3/2019 (Mai 2019)

Abhandlungen

R. Wagner:
Zwanzig Jahre justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen 185

Der Beitrag legt dar, wie sich die Gesetzgebungskompetenz (einschließlich des Gesetzgebungsverfahrens) in der bisherigen justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen (nachfolgend: j.Z.i.Z.) entwickelt hat. Im Anschluss wird das Verhältnis der Europäischen Union zur Haager Konferenz für Internationales Privatrecht beleuchtet. Sodann geht die Abhandlung auf einzelne Aspekte des Normenbestands ein, der in dem maßgeblichen Zeitraum in Brüssel in der j.Z.i.Z. ausgearbeitet worden ist. Darüber hinaus werden die Entscheidungen des EuGH auf diesem Rechtsgebiet gewürdigt. Schließlich geht der Beitrag auf Kritik an Vorschriften der j.Z.i.Z. ein, ehe er mit einem kurzen Fazit und Ausblick endet.

Entscheidungsrezensionen

E. Jayme/C.F. Nordmeier:
Testierfreiheit als europäisches Menschenrecht? – Kritische Betrachtungen zur Westthrazien-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 200

Der Beitrag untersucht kritisch die Entscheidung des EGMR vom 19.12.2018, Molla Sali v. Greece, welche das für Muslime geltende rechtliche Sonderregime im griechischen Westthrazien zum Gegenstand hat. Der Gerichtshof sieht Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 als verletzt an, wenn das nach staatlichem griechischem Recht errichtete Testament eines muslimischen Erblassers dieser Region am religiösen Recht gemessen wird. Die Autoren sind der Auffassung, dass eine menschenrechtlich geschützte Wahl zum staatlichen Recht für einzelne Rechtsgebiete oder Rechtsfragen nicht zulässig ist. Sie eröffnet dem Einzelnen eine willkürliche Mischung staatlichen und religiösen Rechts, die insgesamt zu unstimmigen Ergebnissen führen kann. So liegt es insbesondere, wenn Rechtspositionen Dritter betroffen sind. Zudem werden übergreifende politische Gesichtspunkte des Schutzes von Minderheiten, vor allem in West-Thrazien, in der Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt.

J. Schulte:
Gemeinsam verzockt: Zuständigkeit und Anknüpfung bei Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters durch mehrere Schädiger (EuGH, S. 233) 202

Am 27.9.2017 entschied der EuGH über die internationale Zuständigkeit und das anwendbare Recht bei Verletzung eines gemeinschaftsweit einheitlichen Schutzrechts. Nintendo Inc. hatte eine Mutter- und deren Tochtergesellschaft wegen Herstellung, Bewerbung und Vertrieb von Zubehör zur Wii-Konsole unter Verletzung des Gemeinschaftsgeschmacksmusters verklagt. Die Entscheidung des Gerichtshofs bringt in vielen wichtigen Punkten Klarheit; namentlich zur Kognitionsbefugnis mitgliedstaatlicher Gerichte bei Streitgenossenschaft mehrerer Schädiger, zum Verhältnis zwischen der Rom II-Verordnung und den Sonderkollisionsnormen in den materiellrechtlichen Verordnungen zu den gemeinschaftsweit einheitlichen Schutzrechten sowie zu Verletzungen via Internet. Besonders bemerkenswert ist die Etablierung einer Schwerpunkttheorie zum anwendbaren Recht bei einer Mehrheit potenzieller Handlungsorte im Sinne des Art. 8 Abs. 2 Rom II.

P. Mankowski:
Rechtswahlklauseln in den AGB von Fluggesellschaften (OLG Frankfurt, S. 241) 208

Rechtswahlklauseln sind alltägliches Massengeschäft in den AGB von Fluggesellschaften. Ihren Rechtsrahmen steckt primär Art. 5 Abs. 2 UAbs. 2 Rom I-VO ab. Die Amazon-Entscheidung des EuGH wirft indes die Frage auf, ob Transparenzanforderungen aus dem AGB-Recht weitergehen und strenger sein könnten.

B. Heiderhoff:
Die Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 3 EuEheVO und ihre Folgen (EuGH, S. 245) 213

Es kommt recht häufig vor, dass Kinder in Erbangelegenheiten beteiligt sind. Die Eltern können ihre Kinder dann nicht in jedem Fall selbst gesetzlich vertreten, sondern es werden oftmals gerichtliche Kontrollen oder Genehmigungen erforderlich. Wenn dies internationale Erbangelegenheiten betrifft, sind nicht ganz einfache Fragen der Zuständigkeit und des anwendbaren Rechts zu klären. Der EuGH hatte sich nun bereits zum zweiten Mal damit zu befassen, wie in solchen Fällen die EuErbVO und die EuEheVO voneinander abzugrenzen sind und welches Gericht zuständig ist. Das anwendbare Recht ergibt sich demgegenüber aus dem KSÜ – oder unter Umständen sogar aus dem autonomem nationalen Recht –, so dass der EuGH dafür nicht zuständig ist. Auch darauf sei jedoch im Folgenden eingegangen.

U.P. Gruber:
Der gewöhnliche Aufenthalt von Säuglingen und Kleinkindern (EuGH, S. 248) 217

In der Rechtssache HR (Urteil vom 28.6.2018 – C 512/17) hat EuGH verschiedene Vorlagefragen eines polnischen Gerichts zum gewöhnlichen Aufenthalt eines Kindes Art. 8 EuEheVO zu entscheiden. Nach dem EuGH ist maßgeblich darauf abzustellen, in welchem Staat sich der regelmäßige Aufenthalt des Kindes befindet und ob die sorgeberechtigten Personen, die sich auch de facto hauptsächlich um das Kind kümmern, ebenfalls in diesem Staat ansässig sind. Ist dies zu bejahen, ist ein gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes in diesem Staat anzunehmen. Andere Umstände spielen dann grundsätzlich keine Rolle mehr. Dies betrifft insbesondere vorübergehende Aufenthalte des Kindes in einem anderen Staat während der Ferienzeit oder an Feiertagen, fortbestehende sprachliche und kulturelle Bindungen eines Sorgeberechtigten und/oder des Kindes zu diesem anderen Staat sowie ein (noch) nicht in die Tat umgesetzter Umzugswille eines oder beider Sorgeberechtigten.

Die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache HR stellt in methodischer Sicht einen wichtigen Schritt nach vorne dar: Von der bloßen Benennung verschiedener (potentiell) relevanter Umstände ist der EuGH – was den gewöhnlichen Aufenthalt von Säuglingen und Kleinkindern anbelangt – erstmalig zu einer typisierenden Betrachtung und abstrakt-generellen Gewichtung einzelner Faktoren übergegangen. Dies entspricht der Vorgehensweise, die auf der Ebene des nationalen Rechts bei der Konkretisierung von stark normativen Begriffen und Generalklauseln bekannt und erprobt ist.

Die Entscheidung bezieht sich unmittelbar nur auf die Auslegung von Art. 8 EuEheVO. Sie dürfte jedoch auch in anderen Zusammenhängen die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Säuglingen und Kleinkindern maßgeblich beeinflussen.

U.P. Gruber/L. Möller:
Die Zulässigkeit eines Sorgerechtsverfahrens bei vorangegangener Kindesrückgabe nach HKÜ (OLG Bremen, S. 253) 221

Das Haager Kindesentführungsübereinkommen von 1980 (HKÜ) stellt im Kern ein Rechtshilfeabkommen dar. Es ist darauf gerichtet, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen. Nach Art. 19 HKÜ ist eine aufgrund des HKÜ getroffene Entscheidung über die Rückgabe des Kindes nicht als Entscheidung über das Sorgerecht anzusehen. Art. 16 HKÜ schreibt weitergehend im Falle eines unmittelbar bevorstehenden bzw. anhängigen HKÜ-Rückgabeverfahrens eine Sperrwirkung für Sorgerechtsverfahren im Zufluchtstaat vor. Ein bereits rechtshängiges Sorgerechtsverfahren ist auszusetzen; ein neues Sorgerechtsverfahren darf nicht eingeleitet werden. Das OLG Bremen hatte Gelegenheit, diese zeitliche Reichweite der Sperrwirkung nach Art. 16 HKÜ näher zu konkretisieren. Die Sperrwirkung des Art. 16 HKÜ gilt hiernach grundsätzlich bis zu dem Zeitpunkt, in dem das Kind an den Antragsteller zurückgegeben ist und sich in dem Staat befindet, in dem das Kind vor der Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Das OLG Bremen hatte sodann über die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für das Sorgerechtsverfahren zu entscheiden. Gemäß Art. 14 Brüssel IIa-VO i.V.m. § 99 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 hat es, gestützt auf die deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes, zu Recht eine Zuständigkeit angenommen. Der Fall zeigt, dass § 99 FamFG in mehrfacher Hinsicht reformbedürftig ist: § 99 FamFG sollte durch eine flexible Verweisungs- bzw. Abgaberegel nach dem Vorbild des Art. 15 EuEheVO bzw. der Artt. 8, 9 KSÜ ergänzt werden. Zudem sollte in Anlehnung an Art. 10 EuEheVO bzw. Art. 7 KSÜ vorgesehen werden, dass eine widerrechtliche Kindesentführung, die den Verlust des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes im Inland zur Folge hat, grundsätzlich nicht zu dem Verlust einer auf den (vormaligen) gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes gestützten internationalen Zuständigkeit führt.

K. Siehr:
Sind deutsche Gerichte international zuständig, den Besuch deutscher Kinder, die in China wohnen, in Deutschland einstweilig anzuordnen? Gefangen im „Land des Lächelns“? (BGH, S. 255) 226

Lebt ein sorgeberechtigter deutscher Vater mit seinen Kindern im Ausland und unterlässt er es, das Umgangsrecht der Mutter zu verwirklichen, so sind deutsche Gerichte international zuständig, dieses Unterlassen mit der Verhängung von Ordnungsgeld zu ahnden. Die Vollstreckung dieser Entscheidung obliegt jedoch dem Ausland, wenn sie im Ausland vollstreckt werden soll.

P. Kindler/D. Paulus:
Eintragung italienischer Personengesellschaften ins deutsche Grundbuch (BGH, S. 258) 229

In seinem Urteil vom 9. Februar 2017 – betreffend eine weitgehend der GbR entsprechende italienische Einfache Gesellschaft (società semplice) – hat der BGH entschieden, dass auch ausländische Personengesellschaften formell grundbuchfähig sein, d.h. unter ihrem (etwaigen) eigenen Namen in das deutsche Grundbuch eingetragen werden können. Voraussetzung hierfür sei nicht etwa deren volle Rechtsfähigkeit, sondern nur, dass eine ausländische Gesellschaft nach ihrem Gesellschaftsstatut zumindest eine Teilrechtsfähigkeit im Hinblick auf den Erwerb von Grundstücken bzw. Grundstücksrechten besitze. Zur Ermittlung einer derartigen (Teil-)Rechtsfähigkeit muss ein Gericht das ausländische Recht (gleichermaßen in einem streitigen wie in einem Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit) von Amts wegen ermitteln. Eine er-messensfehlerfreie Ermittlung des fremden Rechts liegt dabei grds. nur dann vor, wenn neben den relevanten Rechtsnormen auch dessen konkrete Ausgestaltung in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere der ausländischen Rechtsprechung, berücksichtigt wird. Hierzu muss sich das Gericht aller ihm zugänglicher Erkenntnisquellen in vollem Umfang bedienen. Die zum 18. August 2009 neu eingeführte Regelung des § 47 Abs. 2 GBO, wonach bei der Ein-tragung eines Rechts für eine GbR in das Grundbuch zwingend zugleich auch deren Gesell-schafter (mit) einzutragen sind, findet hingegen auf ausländische Personengesellschaften (wohl) keine analoge Anwendung. Die Autoren stimmen dem BGH zu und weisen zusätzlich darauf hin, dass die società semplice als Personengesellschaft nach italienischem Recht sogar die volle Rechtsfähigkeit besitzt.

Rezensierte Entscheidungen

18 EuGH 27.9.2017 Rs. C-24, 25/16 Gemeinsam verzockt: Zuständigkeit und Anknüpfung bei Verletzung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters durch mehrere Schädige [J. Schulte, S. 202] 233
19 OLG Frankfurt 13.12.2018 16 U 15/18 Rechtswahlklauseln in den AGB von Fluggesellschaften [P. Mankowski, S. 208] 241
20 EuGH 19.4.2018 Rs. C-565/16 Die Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 3 EuEheVO und ihre Folgen [B. Heiderhoff, S. 213] 245
21 EuGH 28.6.2018 Rs.C-512/17 Der gewöhnliche Aufenthalt von Säuglingen und Kleinkindern [U.P. Gruber, S. 217] 248
22 OLG Bremen 21.6.2017 4 UF 20/17 Die Zuständigkeit nach Art. 12 Abs. 3 EuEheVO und ihre Folgen [U.P.Gruber/L.Möller, S. 221] 253
23 BGH 30.9.2015 XII ZB 635/14 Sind deutsche Gerichte international zuständig, den Besuch deutscher Kinder, die in China wohnen, in Deutschland einstweilig anzuordnen? Gefangen im „Land des Lächelns“? [K. Siehr, S. 226] 255
24 BGH 9.2.2017 V ZB 166/15 Eintragung italienischer Personengesellschaften ins deutsche Grundbuch [P. Kindler/D. Paulus, S. 229] 258
25, 26 öOGH, OLG Innsbruck 28.6.2017, 23.11.2016 9 Ob 6/17y, 4 R 169/16h Der Erfüllungsgerichtsstand bei mehreren Leistungsorten: spezifischer Ortsbezug und planende Vorarbeit [K. Duden, S. 262] 259, 261

Blick in das Ausland

K. Duden
Der Erfüllungsgerichtsstand bei mehreren Leistungsorten: spezifischer Ortsbezug und planende Vorarbeit (öOGH, S. 259 und OLG Innsbruck, S. 261) 262

Artikel 7 Nr. 1 lit. b 2. Spiegelstrich EuGVVO eröffnet für Dienstleistungsverträge einen einheitlichen Erfüllungsgerichtsstand am Ort der Erbringung der Dienstleistung. Anlässlich einer Entscheidung des österreichischen OGH zu einem Architektenvertrag widmet sich der Beitrag der Bestimmung des einheitlichen Erfüllungsgerichtsstands in Fällen, in denen die Leistung an mehreren Orten erbracht wird, wobei zwischen äußerer und innerer Vielfalt der Leistung differenziert wird. Bezüglich des Architektenvertrags befürwortet der Autor mit dem OGH einen Hauptleistungsort und somit Erfüllungsgerichtsstand am Belegenheitsort der unter dem Vertrag zu errichtenden Immobilie. Darüber hinaus bespricht der Beitrag, wo generell der Erfüllungsgerichtsstand bei Verträgen zu finden ist, die zu planenden Vorarbeiten und zu deren späterer Umsetzung vor Ort verpflichten – allerdings nicht unbedingt spezifisch auf diesen Ort ausgerichtet sind. Abschließend werden die Fälle ins Auge gefasst, in denen kein Hauptleistungsort identifiziert werden kann. Dabei wird vertreten, dass es unter den Ansätzen, die der EuGH in derartigen Fällen anwendet, eher überzeugt, dem Kläger ein Wahlrecht unter den Orten zu gewähren, die als Hauptleistungsort in Frage kommen, als einem Erfüllungsgerichtsstand am Sitz des charakteristisch Leistenden unter verschiedenen möglichen Hauptleistungsorten einen Vorrang einzuräumen.

L. Hübner:
Existenzstreitigkeiten als Fall des Art. 24 Nr. 2 EuGVVO – Die Doktrin der fictivité im europäischen Zuständigkeitsrecht – Cour de cassation, 4.5.2017 – Nr. 16-12.853 267

Die Entscheidung der Cour de cassation behandelt den ausschließlichen Gerichtsstand für gesellschaftsbezogene Streitigkeiten in Art. 24 Nr. 2 EuGVVO. Die Cour de cassation bestätigt die gebotene enge Auslegung im Einklang mit den Vorgaben des EuGH. Gegenstand der Klage ist nicht die Beschlussmangelstreitigkeit, die häufiger Gegenstand einer Klage in Zusammenhang mit Art. 24 Nr. 2 EuGVVO ist, sondern eine sog. Existenzstreitigkeit aufgrund der französischen Doktrin der fictivité.

P. Schlosser:
Aufhebung eines Investitionsschiedsspruchs wegen Zuständigkeitsüberschreitung – Cour d’appel de Paris,29.1.2019 – No 16/20822 270

Im Blick auf die Enteignung von Goldminen erhob die Klägerin Schiedsklage nach der „Additional Facility des Weltbankzentrums“. Schiedsort war Paris. Die Klägerin war zwar erfolgreich, jedoch beim Entschädigungsumfang nur teilweise. Die Cour d‘Appel von Paris hob selbst die teilweise erfolgreiche Entschädigungsberechnung auf, nicht aber die „übrigen Teile des Schiedsspruchs“, weil sie Elemente enthielten, die vor Beginn der Verjährungsfrist lagen und der fragliche Investitionsschutzvertrag zwischen Kanada und Venezuela die Verjährung als Zuständigkeitsproblem für das Schiedsgericht auswies. Da der Schiedsspruch aber auch in den USA für vollstreckbar erklärt worden war, erreichte die Klägerin einen Vergleich mindestens in der Höhe des ausgeurteilten Betrags.

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