Heft 2/2018 (März 2018)

Abhandlungen

H.-P. Mansel/K. Thorn/R. Wagner:
Europäisches Kollisionsrecht 2017: Morgenstunde der Staatsverträge? 121

Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Brüsseler Entwicklungen auf dem Gebiet der Justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in der Zeit von Dezember 2016 bis einschließlich Dezember 2017. Er berichtet über aktuelle Projekte sowie neue Instrumente, die sich zurzeit im EU-Gesetzgebungsverfahren befinden und informiert über die deutsche Begleit- und Durchführungsgesetzgebung zu neuen EU-Instrumente. Des Weiteren werden die Bereiche angesprochen, in welchen die EU von ihrer Außenkompetenz Gebrauch gemacht hat. Ausführlich wird die Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen internationalen Privat- und Verfahrensrechts des Jahres 2017 analysiert. Auch werden aktuelle Projekte und die neuesten Entwicklungen bei der Haager Konferenz für internationales Privatrecht skizziert.

Entscheidungsrezensionen

S. Huber/S. Geier-Thieme:
Der Deliktsgerichtsstand im europäischen Zuständigkeitsrecht bei sogenannten „unmittelbaren Vermögensschäden“ (EuGH, S. 193) 155

Die EuGH-Entscheidung Universal Music (Rs. C-12/15) betrifft einen deliktsrechtlichen Sachverhalt, bei dem der Geschädigte aufgrund eines Sorgfaltspflichtverstoßes des Schädigers eine wirtschaftlich nachteilige Verpflichtung gegenüber einem Dritten eingegangen war. Diesen Fall hat der EuGH genutzt, um für den europäischen Deliktsgerichtsstand klarzustellen, dass allein die Belegenheit eines Kontos, das der Geschädigte verwendet, um die wirtschaftlich nachteilige Verpflichtung zu erfüllen, keinen Gerichtsstand zu begründen vermag. Insoweit verdient die Entscheidung Zustimmung. Das gegenteilige Ergebnis gäbe dem Geschädigten die Möglichkeit, durch die Wahl eines Kontos einen Gerichtsstand einseitig zu schaffen. Bedauerlich ist allerdings, dass der EuGH die Chance verpasst hat, den deliktischen Erfolg im zuständigkeitsrechtlichen Sinne auch für Fälle reiner Vermögensschäden auf den unmittelbar entstandenen Erstschaden zu beschränken. Stattdessen hebt der EuGH auf den Abschlussort eines Vergleichs ab, mit dem der bereits eingetretene Erstschaden lediglich vermindert wurde. Den eigentlichen Erstschaden stellt demgegenüber die wirtschaftlich nachteilige Verpflichtung dar, die der Geschädigte aufgrund des rechtswidrigen Schädigerverhaltens eingegangen war. Diese Verpflichtung ist internationalprivatrechtlich am Sitz des Schuldners zu lokalisieren, also am Geschädigtensitz. Der daraus folgende Klägergerichtsstand erscheint in Konstellationen wie der vorliegenden durchaus angemessen. Der Ansatz des EuGH bedeutet demgegenüber einen bedauernswerten Verlust an Rechtssicherheit.

H. Dörner:
„One-shotter“ gegen „repeat player“ – Zum Verständnis der Art. 13 Abs. 2 und 11 Abs. 1 lit. b EuGVVO (EuGH, S. 196) 158

Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs gewährt die europäische „Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“ den in den Art. 13 Abs. 2 und 11 Abs. 1 lit. b genannten Personen einen zusätzlichen Gerichtsstand an ihrem eigenen Wohnsitz, weil es sich bei diesem Personenkreis jeweils um die „wirtschaftlich schwächere und rechtlich weniger erfahrene“ Partei handelt. Da mit der Gewährung eines solchen Klägergerichtsstands eine verfahrensrechtliche Besserstellung verbunden ist, drängt sich der Gedanke auf, dass dadurch gerade auch Defizite im Verfahren kompensiert werden sollen. Der Verfasser schlägt vor, das Verhältnis der Prozessparteien und die strukturelle Unterlegenheit der jeweiligen Kläger mit der von Marc Galanter eingeführten Unterscheidung zwischen „one-shotter“ und „repeat player“ zu beschreiben. Ein one-shotter ist ein „Einmalprozessierer“, der die Hilfe der Gerichte nur gelegentlich in Anspruch nimmt, während der „repeat player“ als „Vielfachprozessierer“ auf einem bestimmten Gebiet immer wieder gleichartige Prozesse führt. Mit der Übernahme dieses Begriffspaares lässt sich die Materie erstens widerspruchsfrei darstellen und insbesondere die hier zu besprechenden EuGH-Entscheidung sachgerecht einordnen. Zweitens wird das diffuse, weil von verschiedenen Variablen abhängige Konstrukt der „schwächeren Partei“ auf ein einziges, empirisch überprüfbares und damit einem Beweis zugängliches Kriterium – nämlich das Ausmaß der Prozesstätigkeit der Beteiligten – zurückgeführt.

F. Koechel:
Art. 26 EuGVVO: Zeitpunkt der Zuständigkeitsrüge und Einlassung auf das Verfahren (EuGH, S. 198 und LG Aachen, S. 202) 165

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH kann der Beklagte die Zuständigkeit nach Art. 26 EuGVVO nicht nach dem ersten Verteidigungsvorbringen lege fori rügen. Auf Ersuchen der Corte di Cassazione hat der EuGH diesen Zeitpunkt für die Rüge der Zuständigkeit nun konkretisiert. Der Beklagte mache den Mangel der Zuständigkeit auch rechtzeitig geltend, wenn er die Zuständigkeitsrüge gleichzeitig und nur hilfsweise mit seiner ersten Verteidigungshandlung nach der lex fori erhebt. Der EuGH bestimmt den maßgeblichen Zeitpunkt für die Zuständigkeitsrüge autonom, nicht aber den Begriff der Einlassung auf das Verfahren. Der konkrete Verfahrenszeitpunkt, bis zu dem der Beklagte die Zuständigkeit rügen kann, hängt davon ab, welche Prozesshandlung des Beklagten nach der lex fori das erste Verteidigungsvorbringen ist. Die deutschen Zivil- und Arbeitsgerichte bestimmen den Verfahrenszeitpunkt für das erste Verteidigungsvorbringen uneinheitlich. Jüngst schloss sich das LG Aachen der restriktiveren Rechtsprechung des BAG an, der zufolge nicht bereits schriftsätzliche Einlassungen des Beklagten genügen, sondern zwingend eine Einlassung des Beklagten in der streitigen mündlichen Verhandlung erforderlich ist. Eine Einlassung des Beklagten gemäß Art. 26 EuGVVO sollte vor Zivil- und Arbeitsgerichte gleichermaßen bereits vor Eintritt in die streitige mündliche Verhandlung, in Schriftsätzen, der Güteverhandlung oder bei der Erörterung des Sach- und Streitstands möglich sein. Für die Qualifikation einer Prozesshandlung des Beklagten als Einlassung auf das Verfahren gemäß Art. 26 EuGVVO ist vielmehr deren Gegenstand entscheidend. Eine Einlassung auf das Verfahren nach Art. 26 EuGVVO sollte daher in allen Mitgliedstaaten die erste Prozesshandlung des Beklagten sein, aus der das Gericht und der Kläger objektiv schließen können, dass der Beklagte eine streitige Sach- oder Zulässigkeitsentscheidung oder eine gütliche Beilegung des Rechtsstreits unter Federführung des Gerichts aus anderen Gründen als der fehlenden Zuständigkeit anstrebt. Der problematische Rekurs auf das Recht des Forumstaats sollte durch einen am Zweck des Art. 26 EuGVVO orientierten, autonomen Einlassungsbegriff ersetzt werden.

M. Gebauer:
Ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung als Aufrechnungsverbot? (BGH, S. 205) 172

1. Gerichtsstandsvereinbarungen können mit einem vertraglichen Aufrechnungsverbot verbunden sein. Das setzt voraus, dass sich die Gerichtsstandsvereinbarung auf das Rechtsverhältnis bezieht, dem die spätere Gegenforderung entstammt; eine auf die spätere Hauptforderung bezogene Gerichtsstandsvereinbarung kommt hingegen nicht als Aufrechnungsverbot in Betracht.

2. Die vom BGH vor Jahrzehnten entwickelte Regel des Inhalts, dass eine für das Rechtsverhältnis der Gegenforderung getroffene Gerichtsstandsvereinbarung im Zweifel ein Aufrechnungsverbot vor deutschen Gerichten bewirkt, wenn hier die Hauptforderung eingeklagt wird, widerspricht dem typischen Parteiwillen. Besonders deutlich tritt dieser Widerspruch dann hervor, wenn es sich – wie in dem hier entschiedenen Fall – um eine konnexe Gegenforderung handelt.

3. Die mitgliedstaatlichen Gerichte bzw. Rechtsordnungen sind nur frei darin, eigenständige Zweifelsregelungen für die Wirkung von Gerichtsstandsvereinbarungen als Aufrechnungsverbote aufzustellen, sofern sich ihre internationale Zuständigkeit für die Hauptforderung nicht aus Europarecht ergibt. Den Auslegungsrahmen für ein allfälliges Aufrechnungsverbot bildet dann bei materiellrechtlicher Qualifikation das Gegenforderungsstatut, nicht das Aufrechnungsstatut. Folgt die internationale Zuständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte für die Hauptforderung dagegen aus Europarecht, so ist im Interesse einheitlicher Zuständigkeitsausübung auch eine europäisch-einheitliche Zweifelsregel für den Umgang mit aus Gerichtsstandsvereinbarungen abgeleiteten Aufrechnungsbeschränkungen geboten.

4. Für die Entwicklung einer solchen Zweifelsregel ist der EuGH berufen, der Gelegenheit erhalten sollte, seine bereits vor vier Jahrzehnten eingeleitete Rechtsprechung zu konkretisieren. Der hier vom BGH entschiedene Fall einer deutsch-chinesischen Gerichtsstandsklausel des Inhalts, dass für eine Klage die Gerichte am jeweils allgemeinen Gerichtsstand der anderen Seite zuständig sein sollen, hätte sich für eine Vorlage an den EuGH geeignet, weil sich die Zuständigkeit deutscher Gerichte hier aus Europarecht ergab. Vorzugswürdig wäre eine europäisch-autonome Regel des Inhalts, dass einer Gerichtsstandsvereinbarung im Zweifel kein Aufrechnungsverbot zu entnehmen ist.

W.-H. Roth:
Drittstaatliche Eingriffsnormen und Rom I-Verordnung (EuGH, S. 207) 177

Die Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen gehört zu den „großen Themen” des Internationalen Privatrechts, auch wenn die Praxisrelevanz bisher überschaubar geblieben ist. Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO lässt (als Kompromiss mit England) eine Sonderanknüpfung von Eingriffsnormen – jenseits der lex fori und des Vertragsstatuts – nur unter engen Anwendungsvoraussetzungen zu. In seinem Nikiforidis-Urteil betont der EuGH den Ausnahmecharakter der Anknüpfung von Eingriffsnormen angesichts der grundlegenden Bedeutung der Parteiautonomie. Davon unberührt bleibt die Möglichkeit einer sachrechtlichen Berücksichtigung drittstaatlicher Eingriffsnormen als Faktum im Rahmen des anwendbaren Vertragsstatuts. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EVU) soll die kollisionsrechtliche Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO (auch hinsichtlich mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen) nicht überwinden und insoweit keine Relevanz gewinnen können. Das Urteil enttäuscht insofern, als es die mögliche verfassungsrechtliche Tragweite des Art. 4 Abs. 3 EUV nicht auszuleuchten versucht.

M. Makowsky:
Die Eintragung von Miteigentum im Grundbuch bei ausländischem Güterstatut (OLG München, S. 211) 187

Der Grundstückserwerb durch Ehegatten mit ausländischem Güterstand spielt in der Praxis eine zunehmende Rolle, bereitet aber insbesondere bei der Eintragung der maßgeblichen Erwerbsverhältnisse durch das Grundbuchamt immer wieder Schwierigkeiten. Der Beschluss des OLG München bestätigt zunächst, dass das Grundbuchamt sich auch im Antragsverfahren von Amts wegen die Kenntnis vom anwendbaren ausländischen Recht verschaffen muss. Entgegen der Auffassung des Gerichts folgt daraus aber nicht schon die Unzulässigkeit einer Zwischenverfügung, mit der dem Antragsteller die Vorlage eines privaten Rechtsgutachtens aufgegeben wird. Die Eintragung von Ehegatten mit ausländischem Güterstand als Allein- oder Bruchteilseigentümer darf das Grundbuchamt nur dann verweigern, wenn es davon überzeugt ist, dass dadurch das Grundbuch im Hinblick auf die güterrechtlichen Verhältnisse unrichtig würde. Das erfordert die Überzeugung von der Tatbestandsverwirklichung der ausländischen Norm, die einen gesamthänderischen bzw. gesamthandsähnlichen Erwerb anordnet. Insoweit lassen sich verschiedene Fallkonstellationen systematisieren. Bestehen bloße Zweifeln zur Ausgestaltung des ausländischen Rechts darf die Eintragung – anders als das OLG München meint – durchaus von der vorherigen amtswegigen Aufklärung jener Rechtsfragen abhängig gemacht werden. Für die polnische Errungenschaftsgemeinschaft bejaht das Gericht zutreffend die Möglichkeit eines Allein- bzw. Bruchteilserwerbs der Ehegatten. Nicht überzeugen kann jedoch die Auffassung, dass das Grundbuchamt eine Eintragung von Allein- oder Bruchteilseigentum schon deshalb vorzunehmen habe, weil abstrakt betrachtet der ausländische Güterstand einen derartigen Erwerb ermögliche. Im konkreten Fall musste die Eintragung vielmehr erfolgen, weil die Tatbestandsvoraussetzungen des polnischen Güterrechts für einen Bruchteilserwerb – aus der Sicht des Senats – erwiesenermaßen erfüllt waren und daher die Richtigkeit des Grundbuchs durch die Eintragung gerade gewahrt wurde.

Rezensierte Entscheidungen

11 EuGH 16.6.2016 Rs. C-12/15 Der Deliktsgerichtsstand im europäischen Zuständigkeitsrecht bei ¬sogenannten „unmittelbaren Vermögensschäden“ [S. Huber/S. Geier-Thieme, S. 155] 193
12 EuGH 20.7.2017 Rs. C-340/16 „One-shotter“ gegen „repeat player“ – Zum Verständnis der Art. 13 Abs. 2 und 11 Abs. 1 lit. b EuGVVO [H. Dörner, S. 158] 196
13, 14 EuGH, LG Aachen 21.3.2017 41 O 57/15 26 EuGVVO: Zeitpunkt der Zuständigkeitsrüge und Einlassung auf das Verfahren [F. Koechel, S. 165] 198, 202
15 BGH 21.1.2015 VIII ZR 352/13 Ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung als Aufrechnungsverbot? [M. Gebauer, S. 172] 205
16 EuGH 18.10.2016 Rs. C-135/15 Drittstaatliche Eingriffsnormen und Rom I-Verordnung [W.-H. Roth, S. 177] 207
17 OLG München 30.11.2015 34 Wx 364/15 Die Eintragung von Miteigentum im Grundbuch bei ausländischem ¬Güterstatut [M. Makowsky, S. 187] 211

Mitteilungen

E. Jayme/H. Wais:
Pasquale Stanislao Mancini (1817–1888) und Francesco De Sanctis (1817–1883) – Zwei Gelehrte und Politiker aus dem italienischen Süden – Tagung in Neapel 215
C. Kohler:
Internationales Scheidungsrecht in Europa – Auslegung ¬einheitlichen Privatrechts – Tagung der Europäischen Gruppe für ¬Internationales Privatrecht in Hamburg – 216

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