Heft 6 / 2015 (November 2015)

Abhandlungen

F. Garcimartín:
The situs of shares, financial instruments and claims in the Insolvency Regulation Recast: seeds of a future EU instrument on rights in rem? 489
M. Lehmann:
Eine Lücke im europäischen Kollisionsrecht der Schuldverhältnisse? Die Haftung wegen Vermögensübernahme und wegen Fortführung eines Handelsgeschäfts (OGH, S. 541) 495
Der Aufsatz beschäftigt sich mit Frage, ob es Schuldverhältnisse gibt, die weder der Rom I- noch der Rom II-Verordnung unterfallen, ohne ausdrücklich aus deren Anwendungsbereich ausgenommen zu sein. Paradigmatisch sind die Haftung des Vermögensübernehmers gemäß § 1409 des österreichischen ABGB und die des Fortführers eines Handelsgeschäfts nach §§ 25 f. des deutschen HGB. Zu diesen Haftungsfällen haben OGH und BGH im Jahr 2013 entschieden, dass sie nicht dem Europäischen Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht (EVÜ) unterstehen, sondern autonomen Kollisionsregeln des nationalen Rechts. In der Literatur wird dieselbe Lösung auch unter Geltung der Rom I- und Rom II-Verordnung befürwortet. Dagegen spricht jedoch der grundsätzlich abschließende Charakter des EU-Kollisionsrechts der Schuldverhältnisse. Der vorliegende Beitrag schlägt stattdessen vor, die genannten Haftungsvorschriften als Eingriffsnormen zu behandeln. De lege ferenda wird die Einführung einer speziellen europäischen Kollisionsnorm befürwortet.

Entscheidungsrezensionen

C. Kohler:
Sonderstellung staatseigener Unternehmen im Europäischen Zivilprozessrecht? (EuGH, S. 543) 500
In der Rechtssache C-302/13, flyLAL-Lithuanian Airlines, entschied der EuGH, dass eine Klage auf Ersatz des Schadens, welcher der Klägerin aus einer Verletzung der EU-Wettbewerbsvorschriften durch zwei lettische Gesellschaften, Starptautiskā Lidosta Rīga und Air Baltic, entstanden sein soll, zivil- und handelsrechtlicher Natur ist. Daran ändert nichts, dass der Wettbewerbsverstoß mit der Gebührenpraxis der beklagten Flughafengesellschaft Riga verknüpft ist, die auf lettischen Rechtsvorschriften beruht, und dass die beklagten Gesellschaften ganz oder teilweise im lettischen Staatsbesitz stehen. Ferner präzisiert der EuGH, aus welchen Gründen die Anerkennung und Vollstreckung von Sicherungsmaßnahmen wegen Verstoßes gegen den ordre public des Zweitstaates versagt werden kann. Hierzu gehört nicht die Berufung auf schwerwiegende wirtschaftliche Folgen für Unternehmen, die im Staatsbesitz stehen. Der Verfasser begrüßt die Entscheidung, mit der klargestellt wird, dass für staatseigene Unternehmen im Europäischen Zivilprozessrecht keine Sonderregelung gilt. Er fügt hinzu, dass das kurz nach dem Urteil C-302/13 erstattete Gutachten 2/13 des EuGH zum EMRK-Beitritt der EU an der Bedeutung der ordre public-Klausel der Brüssel I-VO grundsätzlich nichts geändert hat.
F. Wedemann:
EuGVVO oder EuInsVO bei gesellschaftsrechtlichen Haftungsklagen? (EuGH, S. 548) 505
Gesellschaftsrechtliche Haftungsklagen bilden im internationalen Zivilverfahrensrecht eine reichhaltige Quelle schwieriger Abgrenzungsfragen. Der EuGH erschließt die Problematik Schritt für Schritt. Das Urteil in der Rechtssache G.T. GmbH setzt eine wichtige Wegmarke. In seinem Zentrum steht die Frage: Bemisst sich bei der gerichtlichen Geltendmachung von Ansprüchen aus § 64 Satz 1 GmbHG die internationale Zuständigkeit nach der EuGVVO – auch: Brüssel Ia-VO – oder der EuInsVO? Die Ausführungen des EuGH liefern nicht nur Antworten in Bezug auf § 64 Satz 1 GmbHG, sondern geben auch entscheidende Orientierung für die Demarkation der Anwendungsbereiche von EuGVVO und EuInsVO bei anderen Haftungstatbeständen.
F. Temming:
Zum Anwendungsbereich der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge (LAG Düsseldorf, S. 551) 509
In der Entscheidung des LAG Düsseldorf geht es um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Handelsvertreter Arbeitnehmer i.S.d. §§ 18 bis 21 EuGVVO a.F. sind (für Streitigkeiten seit dem 10.1.2015: Art. 19 bis 22 EuGVVO n.F.). Das LAG Düsseldorf prüft diese Frage am Maßstab des autonom auszulegenden Begriffs des Arbeitnehmers und verneint sie mit dem Argument, dass – mangels eines arbeitsrechtlichen Weisungsrechts – der erforderliche Grad an Abhängigkeit nicht gegeben ist. Ebenso sieht es keinen Raum für eine analoge Anwendung der §§ 18 bis 21 EuGVVO a.F. auf Selbständige, die wirtschaftlich abhängig und ebenso schutzbedürftig wie Arbeitnehmer sind (arbeitnehmerähnliche Personen). Im Lichte der jüngeren Rechtsprechung des EuGH (Danosa, FNV Kunsten Informatie en Media, Balkaya) ist diese Auffassung im Ergebnis angreifbar. Der Grund dafür liegt darin, dass der EuGH den unionsrechtlichen Begriff des Arbeitnehmers viel weiter versteht als mitgliedstaatliche Pendants. Ist dem so, erscheint es nicht ausgeschlossen, arbeitnehmerähnliche Personen, wie den klagenden Einfirmen-Vertreter, im Einzelfall als unionsrechtliche Arbeitnehmer zu begreifen und den verfahrensrechtlichen Schutz der §§ 18 bis 21 EuGVVO a.F. zugute kommen zu lassen. Insgesamt ist diese wichtige Problematik dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
M. Fornasier:
Die Ausweichklausel im europäischen Arbeitskollisionsrecht (EuGH, S. 556) 517
In der Entscheidung des LAG Düsseldorf geht es um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Handelsvertreter Arbeitnehmer i.S.d. §§ 18 bis 21 EuGVVO a.F. sind (für Streitigkeiten seit dem 10.1.2015: Art. 19 bis 22 EuGVVO n.F.). Das LAG Düsseldorf prüft diese Frage am Maßstab des autonom auszulegenden Begriffs des Arbeitnehmers und verneint sie mit dem Argument, dass – mangels eines arbeitsrechtlichen Weisungsrechts – der erforderliche Grad an Abhängigkeit nicht gegeben ist. Ebenso sieht es keinen Raum für eine analoge Anwendung der §§ 18 bis 21 EuGVVO a.F. auf Selbständige, die wirtschaftlich abhängig und ebenso schutzbedürftig wie Arbeitnehmer sind (arbeitnehmerähnliche Personen). Im Lichte der jüngeren Rechtsprechung des EuGH (Danosa, FNV Kunsten Informatie en Media, Balkaya) ist diese Auffassung im Ergebnis angreifbar. Der Grund dafür liegt darin, dass der EuGH den unionsrechtlichen Begriff des Arbeitnehmers viel weiter versteht als mitgliedstaatliche Pendants. Ist dem so, erscheint es nicht ausgeschlossen, arbeitnehmerähnliche Personen, wie den klagenden Einfirmen-Vertreter, im Einzelfall als unionsrechtliche Arbeitnehmer zu begreifen und den verfahrensrechtlichen Schutz der §§ 18 bis 21 EuGVVO a.F. zugute kommen zu lassen. Insgesamt ist diese wichtige Problematik dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen.
J. Schilling:
Die kollisionsrechtliche Anknüpfung von internationalen Speditionsverträgen (EuGH, S. 559) 522
Nachdem der EuGH in seiner ICF-Entscheidung zu den Charterverträgen bereits geäußert hatte, bezieht er nun zur kollisionsrechtlichen Einordnung von Speditionsverträgen Stellung. In seiner Haeger & Schmidt-Entscheidung stellt er ausdrücklich klar, dass solche Verträge, die ausschließlich organisatorische Pflichten umfassen, nicht als Güterbeförderungsverträge im Sinne von Art. 4 Abs. 4 EVÜ bzw. Art. 5 Abs. 1 Rom I-VO angesehen werden können. Laut EuGH fällt ein Speditionsvertrag aber dann in den Anwendungsbereich der besonderen Kollisionsnorm für Transportverträge, wenn sein Hauptgegenstand in der Güterbeförderung im eigentlichen Sinn liegt. Dies kommt namentlich beim Selbsteintritt des Spediteurs oder im Falle der Fixkostenspedition in Betracht. Die Qualifikationsentscheidung wird vor allem im Rahmen der Rom I-Verordnung relevant, weil darin die Unterschiede zwischen dem allgemeinen Anknüpfungsregime und jenem für Güterbeförderungsverträge stärker ausgeprägt sind als noch im EVÜ. Bedeutsam ist die jüngste Entscheidung des EuGH auch deshalb, weil das materielle Einheitstransportrechtsrecht auf Speditionsverträge grundsätzlich keine Anwendung findet, sodass es insoweit allein das Kollisionsrecht maßgeblich ist.
J. Hoffmann:
Aufklärungspflichten bei Formularverträgen mit Sprachunkundigen (BAG, S. 562) 528
Das BAG hat sich in dem zu besprechenden Urteil mit der Wirksamkeit des Abschlusses eines deutschsprachigen Formularvertrags mit einem sprachunkundigen Arbeitnehmer befasst. Obwohl weder der Vertragsschluss selbst noch Einbeziehung und Wirksamkeit der AGB durch das fehlende Sprachverständnis in Frage gestellt werden, sollte dem Informationsungleichgewicht durch die Anerkennung einer vorvertraglichen Aufklärungspflicht über den Vertragsinhalt im Einzelfall begegnet werden. Eine solche ist insbesondere anzuerkennen, wenn die vorvertraglichen Verhandlungen in einer anderen Sprache als der Vertragssprache geführt worden waren. Sie kann ferner nachvertraglich aufgrund der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers bei Fortbestehen des Sprachdefizits zu billigen sein.
M. Zwickel:
Der Anscheinsbeweis zwischen lex causae und lex fori im Bereich des französischen Straßenverkehrshaftungsrechts (Loi Badinter) (LG Saarbrücken, S. 567) 531
Die Entscheidung des LG Saarbrücken, die in Sachen „wirksame Klagezustellung an den Schadensregulierungsbeauftragten einer ausländischen Versicherung” schon einmal Anlass zu einem Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH gegeben hatte, betrifft die Frage der Nutzbarkeit des deutschen Anscheinsbeweises in einem nach französischem Sachrecht zu lösenden Sachverhalt. Die Rechtsprechung der französischen Cour de Cassation lässt i.R.d. Straßenverkehrshaftung keine Beweiserleichterungen zu. Die – entgegen dem Sachrecht – erfolgte Heranziehung des Anscheinsbeweises führt damit potentiell zu einem Auseinanderklaffen von prozessualem und materiellem Recht. Die Entscheidung macht damit besonders deutlich, dass der Anscheinsbeweis inner- und außerhalb des Geltungsbereiches des Art. 22 Abs. 1 Rom-II-VO sinnvoll nur nach der lex causae behandelt werden kann.
M. Stürner:
Vollstreckbarerklärung einer englischen Third Party Costs Order (BGH, S. 569) 535
Der BGH hatte sich mit dem Antrag auf Vollstreckbarerklärung einer Third Party Costs Order des englischen High Court zu befassen, die im Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren ergangen war. Der Senat ließ die Frage offen, ob die Entscheidung in den Anwendungsbereich der EuGVVO oder der EuInsVO falle, da beide Verordnungen lückenlos ineinandergriffen und überdies identische Anerkennungsversagungsgründe enthielten. Die Third Party Costs Order verletze weder als solche, noch hinsichtlich der Höhe der zugesprochenen Kosten den deutschen ordre public. Der Autor stimmt dem im Ergebnis zu.
H. Roth:
Vollstreckungsabwehrklage und Aufrechnung (BGH, S. 571) 538
Die ausschließliche Zuständigkeit des Art. 22 Nr. 5 LugÜ umfasst auch die Vollstreckungsabwehrklage des § 767 ZPO, weil sie mit dem Vollstreckungsverfahren in engem Zusammenhang steht. Die Anwendbarkeit des § 767 ZPO hängt entgegen der Auffassung des BGH nicht davon ab, ob für die aufgerechnete Gegenforderung im Falle ihrer selbstständigen Geltendmachung die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts gegeben wäre. Auch für die Aufrechnung bleibt der Grundsatz maßgebend, dass das Gericht im Wege der Verteidigung vorgebrachte Vorfragen ohne zuständigkeitsrechtliche Einschränkungen beurteilen kann.

Rezensierte Entscheidungen

48 OGH 29.10.2013 3 Ob 183/13b Eine Lücke im europäischen Kollisionsrecht der Schuldverhält- nisse? Die Haftung wegen Vermögensübernahme und wegen Fortführung eines Handelsgeschäfts [M. Lehmann, S. 495] 541
49 EuGH 23.10.2014 Rs. C-302/13 Sonderstellung staatseigener Unternehmen im Europäischen Zivilprozessrecht? [C. Kohler, S. 500] 543
50 EuGH 4.12.2014 Rs. C-295/13 EuGVVO oder EuInsVO bei gesellschaftsrechtlichen Haftungsklagen? [F. Wedemann, S. 505] 548
51 LAG Düsseldorf 28.5.2014 12 Sa 1423/13 Zum Anwendungsbereich der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge [F. Temming, S. 509] 551
52 EuGH 12.9.2013 Rs. C-64/12 Die Ausweichklausel im europäischen Arbeitskollisionsrecht[M. Fornasier, S. 517] 556
53 EuGH 23.10.2014 Rs. C-305/13 Die kollisionsrechtliche Anknüpfung von internationalen Speditionsverträgen [J. Schilling, S. 522] 559
54 BAG 19.3.2014 5 AZR 252/12 Aufklärungspflichten bei Formularverträgen mit Sprachunkundigen [J. Hoffmann, S. 528] 562
55 LG Saarbrücken 11.5.2015 13 S 21/15 Der Anscheinsbeweis zwischen lex causae und lex fori im Bereich des französischen Straßenverkehrshaftungsrechts (Loi Badinter) [M. Zwickel, S. 531] 567
56 BGH 8.5.2014 IX ZB 35/12 Vollstreckbarerklärung einer englischen Third Party Costs Order [M. Stürner, S. 535] 569
57 BGH 3.4.2014 IX ZB 88/12 Vollstreckungsabwehrklage und Aufrechnung [H. Roth, S. 538] 571
58 OGH 28.8.2013 6 Ob 138/13g Das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) von 1961 – Wie lebendig ist das Fossil? [H. Odendahl, S. 575] 574

Blick ins das Ausland

H. Odendahl:
Das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) von 1961 – Wie lebendig ist das Fossil? (OGH, S. 574) 575
Der österreichische OGH hat seine Entscheidung über die (Nicht-)Anerkennung einer türkischen Sorgerechtsentscheidung allein auf das Haager Minderjährigenschutzabkommen von 1961 (MSA) gestützt. Demgegenüber hat das OLG Köln bei der Entscheidung über die (Nicht-)Anerkennung einer türkischen Sorgerechtsentscheidung nur das (Luxemburger) Europäische Sorgerechtsübereinkommen (ESÜ) von 1980 geprüft. Es stellt sich daher die Frage, welche Bedeutung diese schon recht alten Übereinkommen überhaupt noch haben und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.

Mitteilungen

J. von Hein:
Beschluss der Zweiten Kommission des Deutschen Rats für Internationales Privatrecht zu dem auf die Vollmacht anwendbaren Recht 578

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