Heft 6/2023 (Oktober 2023)

Gerald Spindler (1960–2023)

Am 11.9.2023 verstarb unerwartet Professor Dr. Gerald Spindler in seinem 62. Lebensjahr. Er hat sich im Jahr 1996 bei Hans-Joachim Mertens in Frankfurt mit einer Arbeit über Unternehmensorganisationspflichten habilitiert und erwarb die venia legendi für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Arbeitsrecht. Seit 1997 war er Ordinarius für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Multimedia- und Telekommunikationsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Er widmete sich in seinen Publikationen stets auch den IPR-Dimensionen seiner Fächer. Wir erinnern uns an ihn als einen begeisterungsfähigen und begeisternden Kollegen mit weiten Interessen und scharfem Blick für neue rechtliche und wirtschaftliche Fragestellungen, einen temperamentvollen Redner und Diskutanten, engagierten Lehrer seiner Studierenden und offenen, humorvollen wie anderen zugewandten Menschen.

 

Ultra-vires-Beschluss des französischen Senats zur EU-Abstammungs-VO

In seinem begründeten Beschluss Nr. 84 vom 22.3.2023 rügt der französische Senat, der Entwurf der EU-Kommission für eine Verordnung zum internationalen Abstammungsrecht verletze das aus Art. 5 Abs. 3 EUV folgende Subsidiaritätsprinzip aus vier Gründen.

  1. Es bestehe bereits kein ausreichendes Bedürfnis zum Erlass einer Verordnung. Die Motive des Verordnungsentwurfs gingen von 2 Mio. Betroffenen aus, was nicht von der zugrundeliegenden Impaktanalyse gestützt werde (103 000 Betroffene).

Auch sei der Anwendungsbereich nicht hinreichend klar definiert, bereits der zentrale Begriff der Abstammung („filiation“) lasse eine Abweichung vom Begriff der englischen Sprachfassung „parenthood“ („Elternschaft“) erkennen.

  1. Es bestehe das Risiko, dass die EU eine Regelung im Bereich der mitgliedstaatlichen Kompetenz erlasse. Das Familien- und Abstammungsrecht sei Teil der nach Art. 4 Abs. 2 EUV geschützten nationalen Identität, die die EU gem. Art. 4 Abs. 2 EUV achten müsse. Die automatische Anerkennung einer in einem EU-Mitgliedstaat etablierten Abstammung bedeute, dass insbesondere auch die Abstammung eines von einer Leihmutter ausgetragenen Kindes von den Wunscheltern anerkannt werden müsse. Dies könne nicht mit der Personenfreizügigkeit der betroffenen Kinder gerechtfertigt werden, da diese schon über andere Instrumente gewährleistet werde.
  2. Der Verordnungsentwurf gehe weit über die Anforderungen hinaus, die der EGMR für die Anerkennung der Abstammung zwischen Kindern und Wunscheltern nach einer Leihmutterschaft aufgestellt habe. Dadurch werde das Gleichgewicht gefährdet, welches Frankreich mit seinem Gesetz über Bioethik (Gesetz vom 21.8.2021) hergestellt habe.
  3. Zuletzt sei die Delegierung der Kompetenz zur Änderung der Annexe an die Europäische Kommission unzulässig. Nach Art. 290 AEUV dürfte nur die Änderung unwesentlicher Teile eines Gesetzgebungsaktes an die Kommission delegiert werden, hier könne die Kommission jedoch den Inhalt des europäischen Abstammungszertifikates verändern. Als eines der hauptsächlichen Elemente des Verordnungsvorschlages handele es sich somit nicht um einen unwesentlichen Teil.

(Zusammengefasst v. Eva Schick, Köln)

 

Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung des Justizstandortes Deutschland durch Einführung von Commercial Courts und der Gerichtssprache Englisch in der Zivilgerichtsbarkeit

Am 16.8.2023 hat die Bundesregierung ihren Entwurf für ein Justizstandort-Stärkungsgesetz beschlossen. Die ordentliche Gerichtsbarkeit in Deutschland bietet für große Wirtschaftsstreitigkeiten insgesamt nur eingeschränkt zeitgemäße Verfahrensmöglichkeiten an. Dies hat zur Folge, dass solche Streitigkeiten vermehrt in anderen Rechtsordnungen oder innerhalb der privaten Schiedsgerichtsbarkeit geführt werden. Das Justizstandort-Stärkungsgesetz soll vor diesem Hintergrund zu einer Stärkung des Justiz- und Wirtschaftsstandorts Deutschland beitragen. Dazu soll es den Parteien von privatrechtlichen Wirtschaftsstreitigkeiten künftig ermöglicht werden, Verfahren vollständig in englischer Sprache zu führen und von einem attraktiven Gesamtpaket für das Verfahren Gebrauch zu machen.

 

Entwurf für ein Gesetz über Kinder, Leihmutterschaft und Abstammung in den Niederlanden

Am 4.6.2023 wurde in den Niederlanden ein Gesetzesentwurf für ein Gesetz über Kinder, Leihmutterschaft und Abstammung eingebracht. Mit dem Gesetzentwurf wird eine Regelung für die Zuerkennung der Elternschaft nach einer Leihmutterschaft innerhalb der Niederlande und eine Regelung für die Anerkennung der Elternschaft nach einer Leihmutterschaft aus dem Ausland eingeführt. Ziel ist es, einen besseren Schutz für das Kind, die Leihmutter und die Wunscheltern zu schaffen. In diesem Zusammenhang werden auch ein Wunschelternurlaub und einige Sanktionen vorgeschlagen. Darüber hinaus zielt der Gesetzentwurf darauf ab, das Recht auf Information über die Elternschaft zu stärken, die Möglichkeiten zur Beendigung der Elternschaft zu erweitern, die Fristen für die Verweigerung der Elternschaft oder die Aufhebung der Anerkennung abzuschaffen und den Schutz minderjähriger Eltern zu stärken.

 

Art. 7 Nr. 1 EuGVVO: Erfüllungsort einer Vertragsstrafe

EuGH 14.9.2023 – C-393/22 – EXTÉRIA s.r.o. ./. Spravime, s.r.o.

Art. 7 Nr. 1 lit. b EuGVVO ist dahin auszulegen, dass ein über den künftigen Abschluss eines Franchisevertrags geschlossener Vorvertrag, der für den Fall seiner Nichterfüllung eine Verpflichtung zur Zahlung einer Vertragsstrafe vorsieht – wobei die Verletzung dieser vertraglichen Verpflichtung den Gegenstand einer Klage bildet – nicht unter den Begriff des Vertrags über die „Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne dieser Bestimmung fällt. In einem solchen Fall bestimmt sich die gerichtliche Zuständigkeit für eine Klage, deren Gegenstand in dieser Verpflichtung besteht, gemäß Art. 7 Nr. 1 lit. a EuGVVO nach dem Erfüllungsort dieser Verpflichtung.

 

Art. 18 Abs. 1 EuGVVO und Art. 3, 6 Rom I-VO: Enger Begriff des Vertragspartners und Verbraucherrechtswahl

EuGH 14.9.2023 – C-821/21 – NM ./. Club La Costa (UK) plc u.a.

  1. Art. 18 Abs. 1 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass der Ausdruck „anderer Vertragspartner“ in dieser Bestimmung so zu verstehen ist, dass er ausschließlich die am streitigen Vertrag beteiligte natürliche oder juristische Person meint, nicht jedoch andere, an diesem Vertrag nicht beteiligte Personen, selbst wenn sie mit dieser Person verbunden sind.
  2. Art. 63 Abs. 1 und 2 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass die gemäß dieser Vorschrift vorzunehmende Bestimmung des Wohnorts des „anderen Vertragspartners“ im Sinne von Art. 18 Abs. 1 dieser Verordnung keine Beschränkung der für den Verbraucher im Sinne derselben Vorschrift bestehenden Wahlmöglichkeit darstellt. Insoweit handelt es sich bei den präzisierenden Angaben zum Begriff „satzungsmäßiger Sitz“ in Art. 63 Abs. 2 um autonome Definitionen.
  3. Art. 3 Rom I-VO ist dahin auszulegen, dass er einer Rechtswahlklausel in den allgemeinen Vertragsbedingungen oder einem gesonderten und dem Verbraucher ausgehändigten Dokument, auf das dieser Vertrag verweist, nicht entgegensteht, sofern diese Klausel den Verbraucher darüber unterrichtet, dass er nach Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO jedenfalls den Schutz der zwingenden Bestimmungen des Rechts des Landes genießt, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
  4. Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO ist dahin auszulegen, dass, wenn ein Verbrauchervertrag die Anforderungen dieser Bestimmung erfüllt und keine gültige Rechtswahl für diesen Vertrag getroffen wurde, das auf diesen Vertrag anzuwendende Recht nach dieser Vorschrift zu bestimmen ist, wobei sich beide Vertragspartner – also auch der Unternehmer – auf sie berufen dürfen und es nicht auf den Umstand ankommt, dass das auf diesen Vertrag gemäß den Art. 3 und 4 Rom I-VO anwendbare Recht möglicherweise für den Verbraucher günstiger wäre.

 

Rom I-VO: Inlandsvertrag und ausreichender Auslandsbezug

EuGH 14.9.2023 – C-632/21 – JF, NS ./. Diamond Resorts Europe Limited (Sucursal en España) u.a.

  1. Die Bestimmungen der Rom I-VO finden im Rahmen eines bei einem Gericht eines Mitgliedstaats anhängigen Rechtsstreits auf Verträge Anwendung, deren beide Parteien dem Vereinigten Königreich angehören, soweit die Verträge einen Auslandsbezug aufweisen.
  2. Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO ist dahin auszulegen, dass die Parteien eines Verbrauchervertrags, wenn dieser Vertrag die Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 erfüllt, das auf den Vertrag anzuwendende Recht gemäß Art. 3 Rom I-VO wählen können, sofern diese Rechtswahl nicht dazu führt, dass dem Verbraucher der Schutz entzogen wird, der ihm durch diejenigen Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO – wonach ein solcher Vertrag dem Recht des Staates unterliegt, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat – mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf; in Anbetracht dessen, dass es sich bei diesem Art. 6 Abs. 2 seiner Art nach um eine zwingende und abschließende Regelung handelt, von dieser Bestimmung nicht zugunsten eines für den Verbraucher angeblich günstigeren Rechts abgewichen werden darf.

 

Art. 8 Nr. 1 EuGVVO bei materiell identischer Verletzung einer Unionsmarke und exklusivem Vertriebsvertrag

EuGH 7.9.2023 – C-832/21 – Beverage City & Lifestyle GmbH u.a. ./. Advance Magazine Publishers Inc.

Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass mehrere Beklagte, die ihren Wohnsitz in unterschiedlichen Mitgliedstaaten haben, vor dem Gericht des Wohnsitzes eines von ihnen, bei dem vom Inhaber einer Unionsmarke im Rahmen einer Verletzungsklage Klageansprüche gegen alle diese Beklagten geltend gemacht wurden, verklagt werden können, wenn ihnen jeweils eine materiell identische Verletzung dieser Marke vorgeworfen wird und sie durch einen exklusiven Vertriebsvertrag verbunden sind.

 

Verfahrensrechtlicher ordre public bei ausschließlicher Gerichtsstandsabrede und Vergleich

EuGH 7.9.2023 – C-590/21 – Charles Taylor Adjusting Ltd, FD. ./. Starlight Shipping Co., Overseas Marine Enterprises Inc.

Art. 34 Nr. 1 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 1 EuGVVO 2001 ist dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung eines Gerichts eines anderen Mitgliedstaats wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung versagen kann, wenn diese Entscheidung insofern die Fortsetzung eines bei einem anderen Gericht des ersten Mitgliedstaats anhängigen Verfahrens erschwert, als sie einer der Parteien eine vorläufige finanzielle Entschädigung für die Kosten zuspricht, die ihr durch das Betreiben des in Rede stehenden Verfahrens entstehen, und zwar mit der Begründung, dass zum einen der Gegenstand dieses Verfahrens von einem Vergleich erfasst werde, der ordnungsgemäß geschlossen und von demjenigen Gericht des Mitgliedstaats, das die fragliche Entscheidung erlassen habe, gebilligt worden sei, und dass zum anderen das Gericht des ersten Mitgliedstaats, bei dem das streitige Verfahren eingeleitet worden sei, in Ansehung einer ausschließlichen Gerichtsstandsklausel nicht zuständig sei.

 

EuInsVO 2017 und Niederlassungsbegriff bei Einzelunternehmer

Vorabentscheidungsersuchen des BGH 7.8.2023 – C-501/23

  1. Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO 2017 dahin auszulegen, dass der Tätigkeitsort einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung darstellt, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt?
  2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass dann, wenn eine selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätige natürliche Person keine Niederlassung i.S.v. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbstständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird?
  3. Sofern Frage 2 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass bei einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person, die keine Niederlassung i.S.v. Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist?

 

Art. 1 lit. e EuEheVO 2019 und FamFG-Verfahren auf gerichtliche Verfügungsgenehmigung

Vorabentscheidungsersuchen des Rayongericht Sofia (Bulgarien) 29.6.2023 – C-395/23

  1. Erfasst der Anwendungsbereich von Art. 1 lit. e EuEheVO 2019 auch Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit betreffend die Erteilung einer gerichtlichen Genehmigung für Verfügungen, z. B. einen Verkauf, über unbewegliche Sachen oder Miteigentumsanteile an unbeweglichen Sachen, die einem Kind gehören?
  2. Nach den Vorschriften welcher Verordnung bestimmt sich die internationale Zuständigkeit eines Gerichts eines Mitgliedstaats der Europäischen Union in Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit betreffend die Erteilung einer gerichtlichen Genehmigung für Verfügungen, z. B. einen Verkauf, über unbewegliche Sachen oder Miteigentumsanteile an unbeweglichen Sachen, die einem Kind gehören: nach Art. 7 Abs. 1 EuEheVO 2019 – das Gericht des Ortes, an dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat – oder nach Art. 4 Abs. 1 lit. c Rom I-VO bzw. Art. 24 Nr. 1 EuGVVO – das Gericht des Ortes, an dem die unbewegliche Sache belegen ist?
  3. Werden die Vorschriften der EuEheVO 2019 über die internationale Zuständigkeit in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung durch ein bilaterales internationales Abkommen zwischen einem Mitgliedstaat (Bulgarien) und einem Drittstaat (der Sowjetunion bzw. der Russischen Föderation) verdrängt, das vor dem Beitritt des Mitgliedstaats zur Europäischen Union geschlossen wurde, wenn dieses internationale Abkommen in Kapitel VIII der EuEheVO 2019 nicht aufgeführt ist?

 

Art. 8 Nr. 1 EuGVVO im Konzern

Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden (Niederlande) 23.6.2023 – C-393/23

  1. Muss das Gericht am Niederlassungsort der Muttergesellschaft in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bei der Prüfung seiner Zuständigkeit gemäß Art. 8 Nr. 1 EuGVVO hinsichtlich der in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft im Rahmen des in dieser Bestimmung vorgesehenen Erfordernisses einer engen Beziehung die im materiellen Wettbewerbsrecht anerkannte Vermutung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Tochtergesellschaft, die Gegenstand des Rechtsstreits ist, zugrunde legen?
  2. Bei Bejahung der ersten Frage: Wie ist dann in diesem Zusammenhang der in den Urteilen Kolassa (C-375/13, EU:C:2015:37) und Universal Music International Holding (C-12/15, EU:C:2016:449) formulierte Maßstab zu konkretisieren? Reicht es in diesem Fall bei Bestreiten eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Tochtergesellschaft für die Annahme der Zuständigkeit nach Art. 8 Nr. 1 EuGVVO hinsichtlich dieser Tochtergesellschaft aus, dass nicht im Voraus als ausgeschlossen angesehen werden kann, dass ein solcher bestimmender Einfluss vorlag?

 

EuUnterhVO und anderweitige Rechtshängigkeit

Vorabentscheidungsersuchen des AG Mönchengladbach-Rheydt 19.6.2023 – C-381/23

Liegt eine anderweitige Rechtshängigkeit mit demselben Gegenstand nach der EuUnterhVO vor, wenn in Belgien ein Verfahren zwischen dem Kindesvater und der Kindesmutter auf Kindesunterhalt geführt wird, während in Deutschland zeitlich später ein Verfahren auf Kindesunterhalt von dem mittlerweile volljährigen Kind gegen die Kindesmutter geführt wird?

 

Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO mit Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2002 und niederländische Sonderverfahren

Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep (Belgien) 15.6.2023 – C-394/22

  1. Ist Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2002 dahin auszulegen, dass unter die Begriffe „Konkurse, Vergleiche und ähnliche Verfahren“ in Art. 1 Abs. 2 lit. b EuGVVO auch ein Verfahren fällt, in dem die in der Klageschrift angeführte Forderung als eine schlichte Forderung aus Lieferungen und Leistungen beschrieben wird, ohne dass eine bereits eingetretene Insolvenz der beklagten Partei erwähnt wird, wobei die eigentliche Rechtsgrundlage der Forderung auf die besonderen abweichenden Bestimmungen des niederländischen Insolvenzrechts (Art. 25 Abs. 2 Nederlandse Wet van 30 september 1893, op het faillissement en de surséance van betaling [Gesetz vom 30. September 1893 über Insolvenz und Zahlungsaufschub, im Folgenden: NIG]) gestützt wird, und in dem:
  1. Ist Art. 25 Abs. 2 NIG mit Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2002 vereinbar, soweit diese Rechtsvorschrift es zulässt, eine solche Forderung (nach Art. 25 Abs. 2 NIG) vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats statt vor dem Insolvenzgericht des Mitgliedstaats, in dem die Insolvenz eingetreten ist, geltend zu machen?

 

BGH 27.7.2023 – I ZB 74/22

Als Mindestvoraussetzung für einen zulässigen Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO muss eine konkrete Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien mit einem potenziell daraus erwachsenden Schiedsverfahren vorgetragen werden. Eine nur potenzielle oder zukünftige Schiedsvereinbarung zwischen den Parteien genügt nicht.

 

BGH 27.7.2023 – I ZB 43/22

  1. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte für einen Antrag gemäß § 1032 Abs. 2 ZPO folgt bei Schiedsverfahren ohne Schiedsort nach dem ICSID-Übereinkommen aus einer analogen Anwendung von § 1025 Abs. 2 ZPO.
  2. Die Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts gemäß Art. 41 Abs. 1 ICSID-Übereinkommen steht der Statthaftigkeit eines Verfahrens nach § 1032 Abs. 2 ZPO jedenfalls ab der Einleitung eines ICSID-Schiedsverfahrens grundsätzlich entgegen.
  3. In der besonderen Konstellation eines Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahrens nach dem ICSID-Übereinkommen auf der Grundlage von Art. 26 ECV steht der Statthaftigkeit eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO die Sperrwirkung des Art. 41 Abs. 1 ICSID-Übereinkommen wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts – auch gegenüber dem Völkerrecht – unter Berücksichtigung des Effektivitätsgrundsatzes ausnahmsweise nicht entgegen.
  4. Dem Abschluss einer wirksamen Schiedsvereinbarung in einem Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren auf der Grundlage von Art. 26 ECV steht entgegen, dass die Schiedsklausel in Art. 26 Abs. 2 lit. c ECV nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union für Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren gegen Unionsrecht verstößt. Wegen der Unvereinbarkeit insbesondere mit Art. 267, 344 AEUV fehlt es an einer wirksamen Einwilligung und damit an einem Angebot des Gaststaats zum Abschluss einer Schiedsvereinbarung.

 

 

BGH 27.7.2023 – I ZB 75/22

  1. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für einen Antrag nach § 1032 Abs. 2 ZPO auf Feststellung der Unzulässigkeit eines Schiedsverfahrens ergibt sich für Schiedsverfahren ohne inländischen Schiedsort aus analoger Anwendung des § 1025 Abs. 2 ZPO.
  2. Der Statthaftigkeit eines Antrags gemäß § 1032 Abs. 2 ZPO steht ab Einleitung eines ICSID-Schiedsverfahrens grundsätzlich die Kompetenz-Kompetenz des Schiedsgerichts zur Entscheidung über seine Zuständigkeit nach Art. 41 Abs. 1 ICSID-Übereinkommen entgegen. Bei Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren kann das staatliche Gericht ausnahmsweise aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unter Berücksichtigung des Effektivitätsgrundsatzes dennoch durch einen vorgelagerten Rechtsbehelf wie § 1032 Abs. 2 ZPO prüfen, ob eine wirksame Schiedsvereinbarung besteht, diese durchführbar ist und der Gegenstand des Schiedsverfahrens der Schiedsvereinbarung unterfällt.
  3. Laut Art. 267, 344 AEUV ist eine internationale Übereinkunft zwischen zwei Mitgliedstaaten unwirksam, wonach ein Investor aus einem der Mitgliedstaaten bei Investitionsstreitigkeiten in dem anderen Mitgliedstaat gegen diesen ein Schiedsverfahren einleiten darf, wenn dieses Verfahren nicht die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten kann (vgl. Achmea – C-284/16 und Komstroy – C-741/19). Daraus folgt, dass der Streitbeilegungsmechanismus in Art. 26 Abs. 2 lit. c, Abs. 3 und 4 Energiecharta-Vertrag (ECV) für Intra-EU-Investor-Staat-Schiedsverfahren, der eine solche volle Wirksamkeit nicht sicherstellt, gegen Unionsrecht verstößt. Dieser Verstoß verhindert die wirksame Einwilligung der Mitgliedstaaten zum Abschluss einer Schiedsvereinbarung auf dieser Grundlage. Die Schiedsvereinbarung kann auch nicht auf Art. 25 ICSID-Übereinkommen gestützt werden, indem es auch dafür einer wirksamen Einwilligung der Mitgliedstaaten bedarf.
  4. Der Prüfungsumfang eines Antrags nach § 1032 Abs. 2 ZPO erstreckt sich auf die Prüfung der Wirksamkeit und Durchführbarkeit einer Schiedsvereinbarung bezüglich eines Streitgegenstands. Daraus folgt die Mindestvoraussetzung, dass die Antragspartei eine bestehende und nicht nur eine potenziell entstehende Schiedsvereinbarung vortragen muss. Diese Einschränkung steht auch nicht im Widerspruch zum Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts. Eine vorbeugende Klärung, ob durch die Annahme eines "stehenden Angebots" gemäß Art. 26 Abs. 3 ECV eine wirksame Schiedsvereinbarung herbeigeführt würde, ist daher nicht gemäß § 1032 Abs. 2 ZPO überprüfbar.

(Leitsätze v. Karin Jackwerth, Köln)

 

Art. 26 EuGVVO setzt keinen EU-Wohnsitz des Einlassenden voraus

BGH 21.7.2023 – V ZR 112/22

  1. Die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte wird unter den Voraussetzungen des Art. 26 EuGVVO auch dann begründet, wenn der sich rügelos einlassende Beklagte seinen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union hat.
  2. Die auf wahren Tatsachen beruhende Suchmeldung eines Kulturgutes auf der Internetseite der Lost Art-Datenbank stellt keine Eigentumsbeeinträchtigung i.S.v. § 1004 Abs. 1 BGB dar und begründet daher keinen auf Beantragung der Löschung gerichteten Anspruch des gegenwärtigen Eigentümers gegen den Veranlasser der Meldung.

 

Innenausgleich zwischen rumänischen Haftpflichtversicherern bei Zugmaschinenunfall

BGH 5.7.2023 – IV ZR 375/21

  1. Zum anwendbaren Recht auf den Innenausgleich zwischen den rumänischen Haftpflichtversicherern einer in Rumänien zugelassenen Zugmaschine und eines in Rumänien zugelassenen Aufliegers nach einem Unfall des Gespanns im März 2017 in Deutschland.
  2. Zur Überprüfbarkeit des auf die Entscheidung des Rechtsstreits anzuwendenden ausländischen Rechts durch das Revisionsgericht.

 

Art. 21 Abs. 1 lit. b (i), Abs. 2 EuGVVO: Patronatserklärung im Konzern und Klage gegen Patron

BAG 29.3.2023 – 5 AZR 55/19

  1. Wenn eine Konzernobergesellschaft zur Absicherung von Forderungen aus einem Arbeitsverhältnis mit einer Untergesellschaft eine Patronats- oder Schirmherrenerklärung gegenüber einem Arbeitnehmer dieser Gesellschaft abgibt, begründet dies nicht ohne weiteres die Anwendbarkeit von Art. 21 Abs. 1 lit. b (i) und Abs. 2 EuGVVO für eine Klage des Sicherungsempfängers gegen die Obergesellschaft.
  2. Etwas anderes kann gelten, wenn vor dem Arbeitsverhältnis mit der Untergesellschaft ein Vertragsverhältnis mit im wesentlichen gleichem Tätigkeitsinhalt mit der Obergesellschaft bestanden hat, das aus steuer- und abgabenrechtlichen Gründen auf die Untergesellschaft „überführt“ werden sollte und der Beschäftigte die Eingehung des Arbeitsverhältnisses mit der Untergesellschaft vom Abschluss der Sicherungsvereinbarung abhängig gemacht hat. Dann wäre dieses Arbeitsverhältnis ohne die Verpflichtung der Obergesellschaft in der Sicherungsvereinbarung nicht zustande gekommen. Zwischen dem Sicherungsempfänger und der Obergesellschaft ist in einem Fall wie diesem ein Unterordnungsverhältnis anzunehmen, das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dazu führt, dass der Sicherungsempfänger die Obergesellschaft nach Art. 21 Abs. 1 lit. b (i) und Abs. 2 EuGVVO vor dem Gericht des Ortes verklagen kann, an dem oder von dem aus er zuletzt gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat.

(Orientierungssätze der Richterinnen und Richter des BAG)

 

Keine perpetuatio fori bei Wechsel des gewöhnlichen Kindesaufenthalts durch Drittstaatenumzug

KG 1.8.2023 – 16 UF 40/23

Zieht der hauptsächlich betreuende Elternteil mit dem Kind vom Inland in einen Nicht-EU-Staat, ohne dass ein widerrechtliches Verbringen des Kindes in das Ausland vorliegt, ist von einem sofortigen Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes auszugehen, der im laufenden Verfahren die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte entfallen lässt.

 

Art. 103 Abs. 1 GG: Rechtliches Gehörs bei Abweisung wegen fehlender internationaler Zuständigkeit

BayObLG 6.7.2023 – 102 AR 135/23

  1. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses gemäß § 281 Abs. 2 S. 2, 4 ZPO, § 2 AUG, § 113 Abs. 1 S. 2 FamFG aufgrund vermeintlich fehlender örtlicher Zuständigkeit kann insbesondere dann durchbrochen werden, wenn der Beschluss unter Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs iSd. Art. 103 Abs. 1 GG ergangen ist.
  2. Ein solcher Verstoß besteht unter anderem dann, wenn ein Gericht eine „Überraschungsentscheidung“ trifft, die ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einem Gesichtspunkt beruht, der von einem gewissenhaften, kundigen Prozessbeteiligten nicht zu erwarten ist. Eine solche Entscheidung liegt vor, wenn ein Gericht einen Antrag wegen fehlender internationaler Zuständigkeit abweist, ohne in dem zuvor ergangenen richterlichen Hinweis Ausführungen zur Zuständigkeit zu machen oder eine anderweitige Gelegenheit zur Stellungnahme durch den Antragsteller zu schaffen.
  3. Ein explizit gewählter Vollstreckungsabwehrantrag gemäß § 767 ZPO kann nicht auf der Grundlage in einen Abänderungsantrag i.S.d. § 238 FamFG umgedeutet werden, dass neben dem Antrag auf Beseitigung der Vollstreckbarkeit eines Titels durch materiell-rechtliche Einwendungen – gemäß dem Zweck der Vollstreckungsgegenklage – auch eine der Änderungsklage entsprechende Anpassung eines Vollstreckungstitels an geänderte wirtschaftliche Verhältnisse gewünscht ist.
  4. Wenn ein Vollstreckungsabwehrantrag geltend gemacht wird und ein auf § 826 BGB gestützter Anspruch erhoben wird, muss nicht davon ausgegangen werden, dass eine Klagehäufung aus Vollstreckungsabwehrantrag und Antrag nach § 826 BGB vorliegt. Stattdessen kann, in Ermangelung einer Geltendmachung von Schadensersatz oder Unterlassung der Zwangsvollstreckung und Titelherausgabe, der Verweis auf § 826 BGB als Arglisteinwand im Rahmen des Vollstreckungsabwehrantrags herangezogen werden.
  5. Ein Gericht, an das mit einem Verweisungsbeschluss ohne Bindungswirkung verwiesen wurde, ist nicht allein dadurch zu einer Rückverweisung befugt. Vielmehr ist zum Zweck der Verfahrensbeschleunigung in diesem Fall eine Vorlage nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO geboten (vgl. BayObLG, Beschluss v. 11.11.2021 – 101 AR 145/21).

(Leitsätze v. Karin Jackwerth, Köln)

 

EuErbVO: Europäisches Nachlasszeugnis und Nachweis der Erbfolge gegenüber Grundbuchamt

KG 27.6.2023 – 1 W 2/23

Der Nachweis der Erbfolge kann gegenüber dem Grundbuchamt mit der beglaubigten Abschrift eines Europäischen Nachlasszeugnisses geführt werden. Die formellen Voraussetzungen an eine solche beglaubigte Abschrift folgen aus dem Unionsrecht. Das nationale (Grundbuch‑)Recht gebietet keine strengeren Anforderungen.

 

Art. 6 Rom II-VO und selbständige Anknüpfung der Marktverhaltensnorm: § 9 HWG als öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm

OLG München 27.4.2023 – 29 U 7344/21

  1. Internationalprivatrechtlich ist beim lauterkeitsrechtlichen Rechtsbruchtatbestand ein mehrstufiges Vorgehen notwendig: Zunächst ist nach der lauterkeitsrechtlichen Kollisionsnorm des Art. 6 Rom II-VO das Wettbewerbsstatut zu ermitteln. Kennt das Wettbewerbsstatut wie im deutschen Recht in § 3a UWG den Rechtsbruchtatbestand, ist in einem zweiten Schritt die internationalprivatrechtliche Anwendbarkeit der verletzten Marktverhaltensnorm nach den für sie einschlägigen Kollisionsnormen der lex fori im Rahmen einer selbständigen Anknüpfung

zu untersuchen.

  1. Da es sich bei der Marktverhaltensnorm nicht zwingend um eine privatrechtliche Vorschrift handeln muss, können im Rahmen des zweiten Schritts neben dem internationalen Privatrecht auch die Grundsätze des internationalen öffentlichen Rechts maßgeblich sein. Handelt es sich bei der Marktverhaltensnorm wie bei § 9 Heilmittelwerbegesetz (HWG) um eine öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm, ist es aufgrund des im öffentlichen Recht geltenden Territorialitätsprinzips dem inländischen Recht erlaubt, die Werbung für Fernbehandlungen zu regeln, die aus dem Ausland heraus im Inland erbracht werden, wenn beispielsweise durch die Werbung im Inland ein hinreichender territorialer Bezug zum Inland gegeben ist. Das inländische Recht regelt dann nicht nur die Frage, ob eine Werbung für Fernbehandlungen nach § 9 Satz 1 HWG untersagt ist, sondern auch diejenige, ob aufgrund der Erfüllung der allgemein anerkannten fachlichen (inländischen) Standards bei der Fernbehandlung die Werbung dafür im Inland ausnahmsweise nach § 9 Satz 2 HWG zulässig ist.

 

Art. 1 Abs. 2, Art. 22 Nr. 1 LugÜ 2007 und dingliche Rückabwicklung eines Grundstückschenkungsvertrags aufgrund Ehegüterrechts

OLG Karlsruhe 15.5.2023 – 5 UF 31/22

  1. Für die Frage, ob ein geltend gemachter Anspruch eine Zivilsache im Sinne von Art. 1 Abs. 2 [gemeint: Abs. 1] LugÜ 2007 darstellt oder die ehelichen Güterstände im Sinne von Art. 1 Abs. 2 LugÜ 2007 betrifft oder einen Anspruch, welcher dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen im Sinne von Art. 22 Nr. 1 LugÜ 2007 zum Gegenstand hat, ist auf den Hauptgegenstand des Anspruchs abzustellen.
  2. Ein auf §§ 1365, 1368 BGB gestützter Anspruch auf dingliche Rückabwicklung eines Grundstückschenkungsvertrags bzw. auf Feststellung der Unwirksamkeit des zugrundeliegenden schuldrechtlichen und dinglichen Rechtsgeschäfts ist kein Anspruch aus ehelichen Güterständen im Sinne von Art. 1 Abs. 2 LugÜ 2007, da er nach seinem Hauptgegenstand auf eine zivilrechtliche (konkret dingliche) Rechtsfolge gerichtet ist, bei der die Voraussetzungen des § 1365 BGB lediglich als Vorfrage zu prüfen sind. Dies gilt auch dann, wenn die Vorfrage gem. § 1365 BGB die wesentliche Streitfrage des Falles darstellt.

 

Rechtswahlklausel für Genussrechtsbedingung erfasst nicht Zeichnungsvorgang zwischen Unternehmer und Verbraucher

OLG Karlsruhe 6.4.2023 – 14 U 63/21

Eine Rechtswahlklausel, wonach sich die Genussrechtsbedingungen einer österreichischen Gesellschaft sowie alle sich daraus ergebenden Rechte und Pflichten ausschließlich nach dem Recht der Republik Österreich bestimmen, beinhaltet keine Rechtswahl zwischen der Gesellschaft und einem Verbraucher hinsichtlich eines Widerrufrechts und dessen Rechtsfolgen. Denn der Zeichnungsvorgang selbst wird von dieser Klausel nicht erfasst.

 

Art. 7 Nr. 2 EuGVVO und § 32 ZPO: Urheber-Eingriffskondiktion nach Brexit gegen Unternehmen auf Britischen Jungferninseln

OLG München 23.3.2023 – 29 U 3365/17

  1. Einer auf eine Eingriffskondiktion gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 BGB gestützten Klage liegen eine „Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder […] Ansprüche aus einer solchen Handlung“ im Sinne von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zugrunde, wenn nach dem Vortrag der Klägerin in ihre urheberrechtlichen Befugnisse zur öffentlichen Wiedergabe eingegriffen worden sein soll, da ein unmittelbarer Zusammenhang mit einer unerlaubten Handlung besteht und sowohl die Gleichbehandlung mit Ausgleichsklagen bei Privatkopien nach der InfoSoc-Richtlinie (RL 2001/29/EG) als auch die Kohärenz zwischen internationalem Zivilprozessrecht und Kollisionsrecht in Form von Art. 10 Abs. 1 Rom II-VO für eine Anwendung von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO sprechen.
  2. Auf eine vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gemäß Art. 50 EUV (sog. Brexit) erhobene Klage gegen eine auf den Britischen Jungferninseln ansässige Beklagte findet Art. 7 Nr. 2 EuGVVO keine Anwendung, weil für dieses Überseegebiet nach Art. 355 Abs. 2 Satz 1 AEUV in Verbindung mit Anhang II zum AEUV, vorletzter Spiegelstrich, nur das in Art. 198 ff. AEUV festgelegte besondere Assoziierungssystem galt und weder die EuGVVO ihre Geltung für die Mitgliedstaaten auf die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete erstreckt noch Art. 7 Nr. 2 EuGVVO eine vom Wohnsitz bzw. Sitz der Beklagten unabhängige Geltung beansprucht.
  3. Erklärt die Beklagte in der Berufungsinstanz, die Rüge der fehlenden internationalen Zuständigkeit nicht mehr aufrechterhalten zu wollen, kann ein Fehlen der internationalen Zuständigkeit, das in erster Instanz gerügt wurde, nicht nachträglich in der Berufungsinstanz, für die § 39 ZPO keine Anwendung findet, durch rügeloses Verhandeln geheilt werden.
  4. Der Begriff der unerlaubten Handlung in § 32 ZPO ist als eigenständiger Begriff des Prozessrechts aufzufassen und umfasst bei der Nutzung und Verletzung gewerblicher Schutzrechte und Urheberrechte auch Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung in der Variante der Eingriffskondiktion, da diese sich in dem weiten, von § 32 ZPO intendierten Sinne als eine Form von unerlaubter – weil der Rechtsordnung zuwiderlaufender – Handlung darstellt.

 

Formvorschriften des afghanischen ZGB zur Eheschließung: „praktisch totes Recht“

OGH 31.5.2023 – 4 Ob 85/23p

  1. Das nach österreichischem Kollisionsrecht anwendbare ausländische Recht ist nach § 3 IPRG in Übereinstimmung mit der Anwendungspraxis der (höchstgerichtlichen) Rechtsprechung des betreffenden Auslandsstaats anzuwenden.
  2. Die Auslegung fremden Rechts ist dann revisibel, wenn die Vorinstanzen eine im ursprünglichen Geltungsbereich des maßgeblichen fremden Rechts in Rechtsprechung und Lehre gefestigte Ansicht nicht berücksichtigt haben.
  3. Obwohl das formal seit 1977 geltende afghanische Zivilgesetzbuch eine Registrierung der Eheschließung für deren Wirksamkeit vorschreibt, kann infolge der geltenden Praxis, nach der nur 5 % aller Ehen in Afghanistan registriert sind, der Antrag auf einvernehmliche Scheidung nicht der Begründung abgewiesen werden, die Eheschließung sei wegen Formmangels ohnehin unwirksam.

(Leitsätze v. Susanne Deißner, Köln)

 

Rechtswahl im Vorprozess erstreckt sich nicht auf Folgeprozess/Verzicht nach § 377 UGB erstreckt sich auch auf Art. 39 CISG

OGH 23.5.2023 – 1 Ob 26/23i

  1. Die Vereinbarung der Anwendung österreichischen Rechts in einem Vorprozess hat keine über diesen Rechtsstreit hinausgehende Wirkung und ersetzt mithin keine Rechtswahl im Folgeprozess.
  2. Ein ausdrücklicher Ausschluss der Rügeobliegenheit i.S.d. § 377 öst. UGB ist unter Heranziehung der Auslegungsregeln aus Art. 8 CISG nur so zu verstehen, dass die Vertragspartner einen Ausschluss jeglicher Rügeobliegenheiten vereinbaren wollten, so dass die Rüge der Vertragswidrigkeit auf Grundlage des Art. 39 CISG nach Sinn und Zweck ebenfalls ausgeschlossen wird.

(Leitsätze v. Karin Jackwerth, Köln)

 

Enge Auslegung des Art. 13 Abs. 1 lit b HKÜ

OGH 17.5.2023 – 6 Ob 80/23t

  1. Ein Grund zur Ablehnung der Rückgabe eines Kindes ist gemäß Art 13 Abs. 2 HKÜ, dass es sich der Rückgabe widersetzt, soweit Alter und Reife des Kindes für die Berücksichtigung dieses Widersetzens sprechen. Dabei hat das Gericht in seiner Ermessensausübung über die Authentizität und Ernsthaftigkeit des Widersetzens sowie das Gewicht der vom Kind genannten Gründe zu entscheiden und diese gegen die Zielsetzung des HKÜ abzuwägen.
  2. Der in Art. 13 Abs. 1 lit b HKÜ aufgeführte Ausnahmetatbestand, dass die Rückgabe nicht verpflichtend ist, soweit sie das Kind in eine unzumutbare Lage bringe, ist in enger Auslegung auf besonders schwere Gefahren für das Kindeswohl im Einzelfall zu beschränken.

(Leitsätze v. Karin Jackwerth, Köln)

 

Art. 1 EuErbVO erfasst auch Ansprüche auf Zahlung des Fehlbetrags gegen einen Geschenknehmer

OGH 10.5.2023 – 2 Nc 32/23p

Die EuErbVO hat gemäß Art. 1 und ErwGr 9 EuErbVO ein für die Mitgliedstaaten zwingendes Regime ausschließlicher Zuständigkeiten für alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen geschaffen. Dieser Anwendungsbereich erstreckt sich auf streitige sowie unstreitige Erbverfahren und erfasst auf § 789 ABGB gestützte Ansprüche auf Zahlung des Fehlbetrags gegen einen Geschenknehmer.

(Leitsatz v. Karin Jackwerth, Köln)

 

Iranische Ferntrauung und österreichischer negativer ordre public

OGH 1.12.2022 – 5 Ob 42/22w

  1. Zur Wirksamkeit einer durch Ferntrauung im Iran geschlossenen Ehe nach dem iranischen ZGB.
  2. Solange der Stellvertreter den bei der Eheschließung nicht anwesenden Ehepartner nicht auch im Willen mit Partnerauswahlbefugnis oder Entschließungsermessen vertritt, sodass die Eheschließung einer Zwangsehe nahe kommt, führt eine nach dem anwendbaren fremden Recht gültige Ferntrauung nicht zu einem Verstoß gegen den österreichischen negativen ordre public nach § 6 IPRG.

(Leitsätze v. Susanne Deißner, Köln)

 

US-amerikanische Leihmutterschaft und niederländischer ordre public

Rechtbank Den Haag 13.1.2023 – C/09/621226 / FA RK 21-7915

  1. Bei der Beurteilung der Frage, ob US-Amerikanische Entscheidungen betreffend familienrechtliche Beziehung zwischen Kindern und den Wunscheltern nach einer Leihmutterschaft in den Niederlanden anerkannt werden können, ist zu prüfen, ob eine solche Anerkennung gegen den ordre public Vorbehalt verstoßen würde.
  2. Im Rahmen der ordre public-Prüfung ist insbesondere zu beurteilen, ob das im Ausland durchgeführte Leihmutterschaftsverfahren sogfältig durchgeführt wurde. Dabei ist zu würdigen, ob die Interessen der Kinder und der Leihmutter ausreichend berücksichtigt wurden. Zu den Interessen der Kinder zählt insbesondere die Möglichkeit herauszufinden, von wem sie geboren wurden, von wem sie genetisch abstammen und unter welchen Umständen sie geschaffen und geboren wurden.

(Leitsätze v. Anna Bobzin, Köln)

 

Commercial Court London beschränkt EuGH Rs. London Steam-Ship Owners

High Court of Justice (England & Wales), Commercial Court 6.10.2023 – The London Steam-Ship Owners' Mutual Insurance Association Ltd v The Kingdom of Spain M/T ‘Prestige’, [2023] EWHC 2473 (Comm)

  1. Ein Urteil nach sec. 66 Arbitration Act 1996, das das Schiedsurteil eines englischen Schiedsgerichts bestätigt und für vollstreckbar erklärt, steht nach Art. 34 Nr. 3 EuGVVO 2001 der Anerkennung des Vollstreckungsbeschlusses eines spanischen Gerichts zwischen denselben Parteien entgegen, dessen rechtliche Folgen mit denen des englischen Schiedsurteils unvereinbar (irreconcilable) wären. Dass das englische Gericht nach den Bestimmungen der EuGVVO 2001 zur Zuständigkeit in Versicherungssachen nicht zuständig gewesen wäre, ist dabei ebenso irrelevant wie in Bezug auf die Geltendmachung einer Schiedsabrede zwischen Versicherer und Versichertem gegenüber dem Geschädigten.
  2. Äußert sich der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens über die gestellten Fragen hinaus, entscheidet das vorlegende Gericht frei und ohne Bindung nach Art. 267 AEUV, ob es dem folgt.
  3. Der Grundsatz der res judicata ist in Bezug auf Gerichtsentscheidungen abschließend durch Art. 34 Nr. 3 und 4 EuGVVO 2001 geregelt. Da Schiedsurteile keine Entscheidungen i.S. dieser Regelungen sind, kann dort der Grundsatz der res judicata als Teil des englischen ordre public über Art. 34 Nr. 1 EuGVVO 2001 durchgesetzt werden. Das englische Schiedsurteil steht daher der Anerkennung der spanischen Gerichtsentscheidung entgegen.
  4. Zu den Befugnissen eines englischen Schiedsgerichts nach sec. 48 Arbitration Act 1996 und zur Gewährung billigkeitsrechtlicher Rechtsbehelfe.

(Leitsätze v. Susanne Deißner, Köln)

 

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