Heft 3/2023 (Mai 2023)

Jürgen Basedow (1949 – 2023)

Am 6.April 2023 starb völlig unerwartet und plötzlich Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Jürgen Basedow, LL.M. (Harvard Univ.). Von 1997 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2017 war er Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht; zuvor hatte er Professuren in Augsburg und an der FU Berlin inne. Insbesondere sein großer Cours Général “The Law of Open Societies” an der Haager Akademie (2012) und die daraus erwachsene Monographie “The Law of Open Societies: Private Ordering and Public Regulation in the Conflict of Laws” (2015) zeigen sein bemerkenswertes kollisionsrechtliches Systemdenken. Seine wichtige Stimme wird fehlen. Ein Nachruf wird in IPRax erscheinen; einer des Deutschen Rats für Internationales Privatrecht findet sich unter dem link: https://ipr.uni-koeln.de/deutscher-rat/personen.

 

Art. 34 Nr. 2 LugÜ 2007 Anforderungen an verfahrenseinleitendes Schriftstück

EuGH 30.3.2023 – C-343/22 – PT ./. VB

Art. 34 Nr. 2 LugÜ 2007 ist dahin auszulegen, dass es sich bei der Klageschrift einer Forderungsklage nach schweizerischem Recht, die nach vorangegangenem Erlass eines schweizerischen Zahlungsbefehls ohne den Antrag erhoben wird, den gegen den Zahlungsbefehl eingelegten Rechtsvorschlag zu beseitigen, um das verfahrenseinleitende Schriftstück im Sinne dieser Bestimmung handelt.

 

Art. 17 Abs. 1 EuGVVO: Anforderungen an Nachweis Verbrauchereigenschaft bei Gesamtwürdigung und Beweisrecht der lex fori

EuGH 9.3.2923 – C-177/22 – JA ./. Wurth Automotive GmbH

  1. Art. 17 Abs. 1 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob eine Person, die einen unter lit. c dieser Bestimmung fallenden Vertrag geschlossen hat, als „Verbraucher“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, die mit dem Abschluss dieses Vertrags verfolgten gegenwärtigen oder zukünftigen Ziele zu berücksichtigen sind, und zwar unabhängig von der Frage, ob diese Person ihre Tätigkeit in einem Arbeitsverhältnis oder selbständig ausübt.
  2. Art. 17 Abs. 1 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass für die Feststellung, ob eine Person, die einen unter lit. c dieser Bestimmung fallenden Vertrag geschlossen hat, als „Verbraucher“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, der Eindruck berücksichtigt werden kann, den diese, sich auf die Verbrauchereigenschaft berufende Person durch ihr Verhalten bei ihrem Vertragspartner erweckt hat, das insbesondere darin bestand, dass sie auf die Vertragsbestimmungen, in denen sie als Unternehmerin bezeichnet wird, nicht reagiert hat, darin, dass sie den Vertrag über einen Vermittler abgeschlossen hat, der in dem Bereich, in den der Vertrag fällt, beruflich oder gewerblich tätig ist und der nach der Unterzeichnung des Vertrags die andere Partei gefragt hat, ob es möglich sei, auf der entsprechenden Rechnung die Mehrwertsteuer auszuweisen, und darin, dass sie den Gegenstand, auf den sich der Vertrag bezieht, kurz nach dessen Abschluss und eventuell mit Gewinn verkauft hat.
  3. Art. 17 Abs. 1 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen der Gesamtwürdigung der ihm zur Verfügung stehenden Informationen bestimmte den Abschluss eines Vertrags begleitende Umstände, bei denen es sich insbesondere um Angaben in diesem Vertrag oder um die Einschaltung eines Vermittlers im Zuge des Vertragsabschlusses handelt, rechtlich hinreichend festzustellen, den Beweiswert dieser Informationen nach den nationalen Rechtsvorschriften zu beurteilen hat, und zwar auch im Hinblick auf die Frage, ob Zweifel der Person zugutekommen müssen, die sich auf die Verbrauchereigenschaft im Sinne dieser Bestimmung beruft.

 

Art. 1 Abs. 2 lit. l, Art. 68 lit. l, Art. 69 Abs. 5 EuErbVO: Autonomie von Europäischem Nachlasszeugnis und Grundbucheintragung bei Nachlasskonkretisierung

EuGH 9.3.2023 – C-354/21 – R. J. R. ./. Registrų centras VĮ

Art. 1 Abs. 2 lit. l, Art. 68 lit. l und Art. 69 Abs. 5 EuErbVO sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die vorsieht, dass der Antrag auf Eintragung eines unbeweglichen Vermögensgegenstands in das Grundbuch dieses Mitgliedstaats abgelehnt werden kann, wenn es sich bei dem einzigen zur Stützung dieses Antrags vorgelegten Schriftstück um ein Europäisches Nachlasszeugnis handelt, das diesen unbeweglichen Vermögensgegenstand nicht identifiziert.

 

Art. 23 lit. c EuVTVO: Verfahrensaussetzung im Vollstreckungsstaat nur bei „außergewöhnlichen Umständen“

EuGH 16.2.2023 – C-393/21 – Lufthansa Technik AERO Alzey GmbH

  1. Art. 23 lit. c EuVTVO ist dahin auszulegen, dass der darin enthaltene Begriff „außergewöhnliche Umstände“ eine Situation erfasst, in der die Fortsetzung des Verfahrens zur Vollstreckung einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung, wenn der Schuldner im Ursprungsmitgliedstaat einen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung eingelegt oder einen Antrag auf Berichtigung oder auf Widerruf der Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gestellt hat, den Schuldner der tatsächlichen Gefahr eines besonders schweren Schadens aussetzen würde, der nicht oder äußerst schwer wiedergutzumachen wäre, falls die genannte Entscheidung aufgehoben wird oder die Bestätigung als Vollstreckungstitel berichtigt oder widerrufen wird. Der Begriff verweist nicht auf Umstände, die mit dem Gerichtsverfahren zusammenhängen, das im Ursprungsmitgliedstaat gegen die als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigte Entscheidung oder gegen die Bestätigung als Europäischer Vollstreckungstitel gerichtet ist.
  2. Art. 23 EuVTVO ist dahin auszulegen, dass er die gleichzeitige Anwendung der in seinen lit. a und b genannten Maßnahmen der Beschränkung und der Leistung einer Sicherheit ermöglicht, nicht aber die gleichzeitige Anwendung einer dieser beiden Maßnahmen mit der in seinem lit. c vorgesehenen Aussetzung des Vollstreckungsverfahrens.
  3. Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 11 EuVTVO ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn die Vollstreckbarkeit einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat ausgesetzt und die in Art. 6 Abs. 2 EuVTVO vorgesehene Bestätigung diesem Gericht vorgelegt wurde, auf der Grundlage dieser Entscheidung das im Vollstreckungsstaat eingeleitete Vollstreckungsverfahren auszusetzen hat.

 

Art. 11 Abs. 3 EuEheVO 2003: Rückführungsaussetzung durch polnische Behörden oder Ombudspersonen verletzt Art. 47 GrCharta

EuGH 16.2.2023 – C-638/22 PPU – Rzecznik Praw Dziecka u.a.

Art. 11 Abs. 3 EuEheVO 2003 ist im Licht von Art. 47 GrCharta dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen Stellen, die nicht den Status eines Gerichts haben, die Aussetzung der Vollstreckung einer auf der Grundlage des HKÜ ergangenen Rückgabeentscheidung von Rechts wegen für eine Dauer von mindestens zwei Monaten erwirken können, ohne ihren Antrag auf Aussetzung begründen zu müssen.

 

Art. 8 Nr. 1 EuGVVO: Markenverletzung in Lieferkette

Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour beim EuGH 23.3.2023 – C-832/21 – Beverage City Polska u.a. ./. Advance Magazine Publishers Inc.

Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ist wie folgt auszulegen: Mehrere Beklagte, die ihren Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten haben, können vor dem Gericht des Ortes, an dem einer von ihnen seinen Wohnsitz hat, verklagt werden, bei dem im Rahmen einer Verletzungsklage vom Inhaber einer Unionsmarke Ansprüche gegen sie geltend gemacht werden, wenn den Beklagten eine materiell identische Verletzung dieser Marke durch jede ihrer Handlungen in einer Lieferkette vorgeworfen wird. Es ist Sache des angerufenen Gerichts, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände der Akte zu beurteilen, ob die Gefahr besteht, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.

 

Art. 15 EuEheVO 2003 ist abschließend

Schlussanträge des Generalanwalts Priit Pikamäe beim EuGH 23.3.2023 – C-87/22 – TT

  1. Art. 15 EuEheVO 2003 ist dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, dessen Zuständigkeit für Entscheidungen über das Sorgerecht für ein Kind auf Art. 10 EuEheVO 2003 in seiner Eigenschaft als Gericht des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, beruht, berechtigt ist, ausnahmsweise das Gericht des Mitgliedstaats, in den das Kind von einem Elternteil widerrechtlich verbracht worden ist und in dem es sich mit diesem Elternteil aufhält, gemäß Art. 15 Abs. 1 lit. b EuEheVO 2003 zu ersuchen, sich für zuständig zu erklären, sofern sich das zuständige Gericht anhand der konkreten Umstände des Falls ordnungsgemäß versichert hat, dass die Verweisung die drei kumulativen Voraussetzungen in Art. 15 Abs. 1 EuEheVO 2003 erfüllt, wobei die wichtigste Voraussetzung darin besteht, dass die Verweisung dem Wohl des Kindes dient.
  2. Art. 15 Abs. 1 EuEheVO 2003 ist dahin auszulegen, dass zum einen die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen abschließenden Charakter haben, und zum anderen das Vorliegen eines Antrags auf Rückgabe eines Kindes nach Art. 8 Abs. 1 und Abs. 3 lit. f HKÜ, über den noch keine abschließende Entscheidung ergangen ist, der Anwendbarkeit von Art. 15 EuEheVO 2003 nicht entgegensteht. Das Vorliegen eines solchen Antrags ist jedoch ein tatsächlicher Umstand, der von dem zuständigen Gericht bei der Prüfung der in Art. 15 Abs. 1 EuEheVO 2003 vorgesehenen Voraussetzungen der Existenz eines Gerichts, das den Fall besser beurteilen kann, und des Kindeswohls im Fall der Verweisung an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, berücksichtigt werden kann.

 

Art. 10 EuEheVO: Rückführungsverfahren nach dem HKÜ im Verhältnis zwischen einem Drittstaat und einem EU-Mitgliedstaat

Vorabentscheidungsersuchen des OLG Frankfurt 20.1.2023 – C-35/23

  1. Gelangt Art. 10 EuEheVO zur Anwendung mit der Folge einer fortdauernden Zuständigkeit der Gerichte im bisherigen Aufenthaltsstaat, wenn das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem EU-Mitgliedstaat (Deutschland) hatte und das Rückführungsverfahren nach dem HKÜ zwischen einem EU-Mitgliedstaat (Polen) und einem Drittstaat (Schweiz) geführt und in diesem Verfahren die Rückführung des Kindes abgelehnt wurde?
  2. Soweit Frage 1 bejaht wird: Welche Anforderungen sind im Rahmen des Art. 10 lit. b) i) EuEheVO an die Darlegung der fortdauernden Zuständigkeit zu stellen?
  3. Gelangen Art. 11 Abs. 6 bis 8 EuEheVO auch bei Durchführung eines Rückführungsverfahrens nach dem HKÜ im Verhältnis zwischen einem Drittstaat und einem EU-Mitgliedstaat als Zufluchtsstaat zur Anwendung, soweit das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem Verbringen in einem anderen EU-Mitgliedstaat hatte?

 

Art. 18 Abs. 1 EuGVVO: Örtliche Zuständigkeit bei unechten Inlandsfällen

Vorabentscheidungsersuchen des AG Nürnberg 7.12.2022 – C-774/22

Ist Art. 18 Abs. 1 EuGVVO dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner, der Reiseveranstalter ihren Sitz im gleichen Mitgliedsstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedsstaat, sondern im Ausland liegt (sog. „unechte Inlandsfälle“), mit der Folge, dass der Verbraucher vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Zuständigkeitsvorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen kann?

 

EuInsVO: Abgrenzung Haupt- und Sekundärinsolvenz I

Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Mercantil de Palma de Mallorca (Spanien) 25.11.2022 – C-772/22

Angesichts der Ausgestaltung des Hauptinsolvenzverfahrens mit universaler Geltung, aber mit Einschränkungen durch die EuInsVO, die die Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren erlaubt, die ausschließlich das im Eröffnungsstaat befindliche Vermögen erfassen:

  1. Können Art. 3 Abs. 2 und Art. 34 EuInsVO dahin ausgelegt werden, dass die Vermögensgegenstände, die sich in dem Staat befinden, in dem das Sekundärverfahren eröffnet wird, und auf die sich die Wirkungen des Verfahrens beschränken, nur die zum Zeitpunkt der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens und nicht die zum Zeitpunkt der Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens vorhandenen Vermögensgegenstände sind?
  2. Kann Art. 21 Abs. 1 EuInsVO dahin ausgelegt werden, dass die Entscheidung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens, zur Masse gehörende Gegenstände zu entfernen, ohne die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens zu beantragen oder es durch Abgabe einer einseitigen Zusicherung gemäß den Art. 36 und 37 EuInsVO zu vermeiden, mit der Befugnis vereinbar ist, zur Masse gehörende Gegenstände aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem sie sich befinden, zu entfernen, wenn ihm bekannt ist, dass es lokale Gläubiger gibt, die durch Urteil feststellte Ansprüche aus Arbeitsverhältnissen haben, und ein Arbeits- und Sozialgericht dieses Mitgliedstaats eine Sicherstellungsbeschlagnahme angeordnet hat?
  3. Kann Art. 21 Abs. 2 EuInsVO dahin ausgelegt werden, dass die Befugnis des Verwalters des Sekundärinsolvenzverfahrens zur Erhebung von Anfechtungsklagen im Interesse der Gläubiger in Fällen wie dem vorliegenden, in dem eine Handlung des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens angefochten werden soll, Anwendung findet?

 

EuInsVO: Abgrenzung Haupt- und Sekundärinsolvenz II

Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Mercantil de Palma de Mallorca (Spanien) 24.11.2022 – C-765/22

Sind nach der Gestaltung des mit der EuInsVO eingeführten eingeschränkten universalen Verfahrens, das die Eröffnung von Sekundärverfahren gestattet, die lediglich das im Eröffnungsstaat befindliche Vermögen erfassen, Art. 35 und Art. 7 Abs. 1 [und 7 Abs.] 2 lit. g und h in Verbindung mit dem 72. Erwägungsgrund dahin auszulegen, dass die Anwendung der Rechtsvorschriften des Staates der Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens auf die Frage, „wie Forderungen zu behandeln sind, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen“, sich auf Forderungen bezieht, die nach der Eröffnung des Haupt- und nicht des Sekundärinsolvenzverfahrens entstehen?

 

Post-Brexit: Postzustellung I

OLG Köln 2.3.2023 – 18 U 188/21

  1. Laut Art. 67 Abs. 1 lit. a des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und Euratom vom 24.1.2020 sind die Zuständigkeitsbestim­mungen der EuGVVO unter bestimmten Voraussetzungen auf gerichtliche Verfahren anwendbar, die vor dem Ablauf der Übergangszeit eingeleitet worden sind.
  2. Auf eine in Deutschland gerichtlich veranlasste Postzustellung in das Vereinigte Königreich, die erst nach Ablauf der im Austrittsübereinkommen bestimmten Übergangszeit veranlasst worden ist, finden mangels Anwendbarkeit der EuZVO das deutsch-britische Abkommen über den Rechtsverkehr vom 20.3.1928 und das Haager Zustellungsübereinkommen vom 15.11.1965 (HZÜ) Anwendung.
  3. Wenn ein Staat im Rahmen des Art. 10 lit. a HZÜ einen Widerspruch gegen die unmittelbare Übersendung gerichtlicher Schriftstücke an im Ausland befindliche Personen erklärt hat, schließt dies Postzustellungen aus diesem Vertragsstaat in Vertragsstaaten, die keinen solchen Widerspruch erklärt haben, nicht aus. Dies folgt aus dem Vorbehalt des Widerspruchs nur für Bestimmungsstaaten zur Vermeidung eines möglichen Eingriffs in deren Souveränität.

(Leitsätze von Karin Jackwerth, Köln)

 

Post-Brexit: Postzustellung II

OLG Köln 2.3.2023 – 18 U 189/21

  1. Gemäß Art. 68 lit. a, 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und Euratom vom 24.1.2020 (Austrittsabkommen) sind die Vorschriften der EuZustVO 2007 über den Austritt des Vereinigten Königreiches hinaus im Verhältnis zu diesem weiterhin anwendbar.
  2. Soweit der zeitliche Anwendungsbereich der Rom I-VO nicht eröffnet ist, kann der Wirksamkeit einer Rechtswahlklausel nach den Art. 27ff EGBGB a.F. nicht entgegengehalten werden, dass eine hinsichtlich des Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO getroffene Entscheidung über missbräuchliche Rechtswahlklauseln wegen Intransparenz bei Verbrauchergeschäften dem Inhalt nach übertragbar sei.

(Leitsätze von Karin Jackwerth, Köln)

 

Art. 14 EuZustVO 2007 und schlichtes Nichtabholen von Post

OLG Frankfurt 21.2.2023 – 26 Sch 11/22

Das schlichte Nichtabholen bei der Post zur Abholung bereitliegender Sendungen stellt im Anwendungsbereich des Art. 14 EuZustVO 2007 noch keine treuwidrige Zugangsvereitelung dar.

 

Art. 24 LugÜ 2007 Rügelose Einlassung hindert Verweisung an anderes Gericht

BayObLG 16.2.2023 – 101 AR 3/23

Die durch wirksame Prozesshandlung in das Verfahren eingeführte ausdrückliche Erklärung der beklagten Partei, sich vor dem angerufenen Gericht rügelos einzulassen, führt im Anwendungsbereich des Art. 24 LugÜ II zur Zuständigkeit des angerufenen Gerichts, die einer Verweisung an das an sich zuständige Gericht entgegensteht.

 

Art. 1 Abs. 2 lit. h EuErbVO: Abgrenzung Erb- und Gesellschaftsstatut bei Unternehmensnachfolge

OLG Hamm 15.2.2023 – 8 U 41/22

  1. Ein Streit über die gesellschaftsrechtlich beschränkte Übertragbarkeit und Vererblichkeit von Gesellschaftsanteilen an einer Personengesellschaft unterfällt der Bereichsausnahme in Art. 1 Abs. 2 lit. h EuErbVO, so dass der Anwendungsbereich dieser Verordnung nicht eröffnet ist.
  2. Die internationale Zuständigkeit für derartige Rechtsstreite ergibt sich dann nicht aus Art. 4 EuErbVO.
  3. Enthält ein Einantwortungsbeschluss nach österreichischem Erbrecht Aussagen über die Rechtsnachfolge in einen Kommanditanteil an einer deutschen Kommanditgesellschaft, ist dies für die Kommanditgesellschaft und ihre Gesellschafter nicht nach Art. 39 EuErbVO verbindlich, jedenfalls wenn der Anwendungsbereich der VO nicht eröffnet ist. In dem Fall kann die Anerkennung auch nicht auf Art. 1 Abs. 1 S. 1, 4, 7 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich über die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von gerichtlichen Entscheidungen, Vergleichen und öffentlichen Urkunden in Zivil- und Handelssachen vom 6.6.1959 gestützt werden.
  4. Zur Auslegung einer gesellschaftsvertraglichen Regelung über die Übertragbarkeit von Kommanditanteilen unter Lebenden und von Todes wegen.

 

Gewöhnlicher Aufenthalt und „Demenztourismus“

OLG München 9.2.2023 – 33 UH 4/23e

  1. Befand sich der Erblasser bis zu seinem Tod mehr als 10 Jahre in einem Pflegeheim am selben Ort, hatte er an diesem Ort seinen gewöhnlichen Aufenthalt.
  2. Das gilt auch dann, wenn er während der gesamten Zeit wegen einer geistigen Erkrankung unter Betreuung stand und der Betreuer auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht ausgeübt hat.

 

Anerkennung einer französischen Sorgerechtsentscheidung

OLG Celle 7.2.2023 – 10 UF 153/22

  1. Die unterbliebene Anhörung des Kindes und bloß fiktive Zustellung des verfahrenseinleitenden Schriftstückes an die Mutter stehen der Anerkennung einer französischen Kindschaftsentscheidung in Deutschland ausnahmsweise nicht entgegen, wenn deren Aufenthalt im Erstverfahren unbekannt geblieben ist und nicht mit zumutbaren Mitteln und in einem angemessenen Zeitraum ermittelt werden konnte.
  2. Bei den zu fordernden Nachforschungsbemühungen des Antragstellers ist nach Treu und Glauben zu berücksichtigen, dass ein bewusstes Verheimlichen des aktuellen Aufenthaltsortes trotz eines zu erwartenden Verfahrens bei der Mutter vorlag und an einen ausländischen Beteiligten keine überhöhten Anforderungen angesichts des nicht bundesländerübergreifenden Melderegisters gestellt werden dürfen.

 

Vertretung bei der Eheschließung bei Scharia-Ehe: Abgrenzung Form- und Sachstatut

OLG Nürnberg 7.2.2023 – 11 W 2076/22

Eine ausländische Eheschließungsvollmacht in Form einer Generalvollmacht ohne Benennung des Ehegatten führt in Ermangelung überzeugender Beweise über die ausnahmslose Konkretisierung der Person dieses Ehegatten nicht zu einer Stellvertretung in der Erklärung, welche als reine Formfrage nach Art. 11 EGBGB nach dem Ortsrecht entschieden würde, sondern zu einer Stellvertretung im Willen. Da das Element des materiellen Ehewillens eine materielle Voraussetzung der Eheschließung darstellt, ist darauf nicht das Ortsrecht anwendbar.

(Leitsatz von Karin Jackwerth, Köln)

 

§ 281 Abs. 2 S. 4 ZPO: Wirksame Verweisung unter Verletzung des Art. 26 Abs. 1 EuGVVO?

BayObLG 6.2.2023 – 101 AR 141/22

Die Verweisung einer Klage an das gemäß Art. 4 ff. EuGVVO örtlich zuständige Gericht unter Nichtbeachtung der eigenen Zuständigkeitserlangung aufgrund rügeloser Einlassung des Beklagten i.S.d. Art. 26 Abs. 1 EuGVVO ist nicht als willkürlich zu erachten und daher nicht geeignet, die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses nach § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO aufzuheben.

(Leitsatz von Karin Jackwerth, Köln)

 

HKÜ: Rückführung in Drittstaat?

OLG Dresden 17.1.2023 – 21 UF 752/22

Der Anordnung einer Rückführung steht nicht ohne weiteres entgegen, dass der die Rückführung beantragende Elternteil nicht im Herkunftsland (hier: Tschechien), sondern in einem anderen Land (hier: Ägypten) lebt. Ebenso steht der Anordnung einer Rückführung nicht ohne weiteres entgegen, dass der entführende Elternteil im Aufenthaltsstaat von einem neuen Lebenspartner ein Kind erwartet.

 

Auslandsumzug und Umgangsrecht

OLG Frankfurt 29.9.2022 – 6 UF 103/22

Verzieht die umgangsberechtigte Mutter ins Ausland (hier Polen) und weigert diese sich, ihr Umgangsrecht am gewöhnlichen Aufenthaltsort des Kindes in Deutschland wahrzunehmen, obwohl ihr dies möglich und zumutbar ist, kann das FamG von der Regelung des Umgangs absehen, soweit im Einzelfall zum Schutz des Kindes nicht ein Umgangsausschluss erforderlich ist und der Umgang aus Gründen des Kindeswohls derzeit nicht mit Übernachtungen am Wohnort der Mutter stattfinden kann.

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