Heft 4/2024 (Juli 2024)

Aktuelles Heft (zum Probeabo)

Abhandlungen

T. Lutzi:
Einseitigkeit statt Allseitigkeit als Strukturprinzip des Digitalen Binnenmarkts? 262

In den immer zahlreicheren Instrumenten, die der europäische Normgeber zur Verwirklichung des digitalen Binnenmarktes erlässt, sucht man allseitige Kollisionsnormen vergeblich. Vielmehr enthalten sich Richtlinien zumeist jeder kollisionsrechtlichen Regelung, während Verordnungen sich auf eine einseitige Bestimmung ihres territorialen Anwendungsbereichs beschränken. Da die Instrumente aber selbst innerhalb ihres sachlichen Anwendungsbereichs keine abschließenden Regeln treffen, greifen sie weiterhin umfangreich auf die nationalen Privatrechtsordnungen der Mitgliedsstaaten zurück und wechselwirken mit diesen. Das bestehende allgemeine Kollisionsrecht kann zwischen diesen Rechtsordnungen nicht befriedigend koordinieren. Für die Verwirklichung eines echten digitalen Binnenmarkts mit einheitlichen Haftungsmaßstäben bedürfte es daher spezifischer allseitiger Kollisionsnormen.

Entscheidungsrezensionen

L. Theimer:
Der letzte Pfeil im Köcher der englischen Gerichte? „Quasi-Prozessführungsverbote“ und Schadensersatz bei Verletzung ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen 267

Der Beitrag untersucht die letzte Instanz der gescheiterten Integration von Instrumenten des englischen common law in das Zuständigkeitssystem der EuGVVO. In der Rs. Charles Taylor Adjusting entschied der EuGH, dass Entscheidungen, die eine vorläufige, im Voraus zu zahlende finanzielle Entschädigung für die Erhebung einer Klage oder die Fortsetzung eines Verfahrens vor dem Gericht eines anderen Mitgliedstaats zusprechen, weil die Rechtssache von einem Vergleich erfasst werde und die Gerichte des anderen Mitgliedstaats aufgrund einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung unzuständig seien, gegen den ordre public gem. Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 1 EuGVVO a.F. verstoßen. Konkret verletzten sie den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, indem sie die Zuständigkeit des Gerichts eines anderen Mitgliedstaats prüften und in dessen Zuständigkeit eingriffen. Zudem beeinträchtigten sie den Zugang zu den Gerichten. Die Entscheidung verdient überwiegend Zustimmung. Der EuGH enttarnt die englischen Entscheidungen über prozessual-dynamische Schadensersatzansprüche als „Quasi-Prozessführungsverbote“, die wie ihre „echten“ Geschwister, die anti-suit injunctions, mit der EuGVVO unvereinbar sind. Im Hinblick auf die vermeintliche Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Gerichts überzeugt die Entscheidung jedoch nicht. Darüber hinaus ist bedauerlich, dass sich weder der EuGH noch der Generalanwalt mit der englischen Sichtweise auf die Problematik auseinandergesetzt haben. Die Entscheidung könnte – was das EU-Recht angeht – den letzten Pfeil im Köcher der englischen Gerichte zerbrochen haben. Denen dürfte dies jedoch reichlich egal sein, steht ihnen nach dem Brexit doch ohnehin ihr gesamtes Arsenal wieder offen.

 

W. Hau:
Der Auslandsbezug in Art. 25 EuGVVO zwischen Anwendungsvoraussetzung und Missbrauchskontrolle 272

Seit Langem ist umstritten, ob zwei Parteien, die ihren Wohnsitz in demselben Mitgliedstaat haben, gemäß Art. 25 EuGVVO die Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaates vereinbaren können, wenn der Sachverhalt, abgesehen von dieser Vereinbarung, keine weiteren grenzüberschreitenden Bezüge aufweist. Diese Frage hat der EuGH nunmehr überzeugend bejaht. Das Urteil gibt Gelegenheit, die Funktion des ungeschriebenen Erfordernisses eines hinreichenden Auslandsbezugs im Rahmen von Art. 25 EuGVVO sowie einige fragwürdige Argumente, die in der bisherigen Diskussion aus anderen Rechtsinstrumenten abgeleitet werden, näher zu betrachten.

 

A. Hemler:
Der „Verbrauchergerichtsstand der passiven Streitgenossenschaft“ in der EuGVVO und der Günstigkeitsvergleich zwischen Verbraucherstatut und allgemeinem Vertragsstatut in der Rom I-VO 276

In den Verfahren Club La Costa und Diamond Resorts legten spanische Gerichte dem EuGH verschiedene Fragen zu ähnlich gelagerten Verträgen über die Teilzeitnutzung spanischer Ferienimmobilien durch Verbraucher mit gewöhnlichem Aufenthalt im Vereinigten Königreich vor. In Club La Costa diskutierte der EuGH in erster Linie, ob der Verbrauchergerichtsstand des Art. 18 Abs. 1 Var. 1 Brüssel Ia-VO im quasi-streitgenossenschaftlichen Sinne eine Klage in Spanien gegen den dort nicht niedergelassenen Vertragspartner des Verbrauchers ermöglicht, wenn ein weiteres mitverklagtes Unternehmen zwar einen Sitz in Spanien hat, jedoch nur über ein vertragsakzessorisches Rechtsverhältnis mit dem Verbraucher verbunden ist. In beiden Verfahren stellte sich zudem die Frage, ob anstelle des nach Art. 6 Rom I-VO für den Verbrauchervertrag berufenen Rechts auf die nach den allgemeinen Rechtsanwendungsnormen der Artt. 3, 4 Rom I-VO anwendbare Rechtsordnung zurückgegriffen werden kann, wenn diese im konkreten Fall günstiger für den Verbraucher ist. Der EuGH verneinte beide Fragen mit eher pauschalen Begründungen. Im Ergebnis ist beiden Entscheidungen vor allem deshalb zuzustimmen, weil sowohl das Internationale Zivilprozessrecht als auch das Rechtsanwendungsrecht das Ziel des Verbraucherschutzes in erster Linie durch die abstrakte Gestaltung der Regelungen über die Rechtswegeröffnung bzw. die Rechtsordnungsauswahl verwirklichen; es ist prinzipiell in beiden Rechtsgebieten nicht intendiert, Wege zu dem im Einzelfall für den Verbraucher günstigsten Forum oder Rechtsanwendungsergebnis zu eröffnen.

C. Uhlmann:
Der Vorvertrag im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht 280

Gegenstand der Entscheidung des EuGH vom 14.9.2023 war die Frage, ob ein Vorvertrag mit der Pflicht zum künftigen Abschluss eines Franchisevertrags, der für den Fall des Nichtabschlusses eine Verpflichtung zur Zahlung einer Vertragsstrafe vorsieht, ein Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Art. 7 Nr. 1 lit. b 2. Spiegelstrich EuGVVO ist. Der EuGH verneinte diese Frage mit der Begründung, dass der Vorvertrag weder eine positive Handlung noch die Zahlung eines Entgelts vorsehe; auch die Pflicht zur Zahlung einer Vertragsstrafe könne mangels tatsächlicher Tätigkeit des Vertragspartners nicht als Entgelt qualifiziert werden. Stattdessen sei die Internationale Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 1 lit. a EuGVVO zu bestimmen. Der Autor kritisiert, dass der EuGH den Vorvertrag losgelöst vom Inhalt des Hauptvertrags bestimmt, und spricht sich im Grundsatz für eine akzessorische Anknüpfung des Vorvertrags an den Hauptvertrag und ein weites Verständnis des Dienstleistungsbegriffs aus.

C. Rüsing:
Zuständigkeitsübertragung nach Art. 15 EuEheVO 2003 und Art. 12, 13 EuEheVO 2019 in Fällen von Kindesentführungen 287

Nach Art. 15 EuEheVO 2003 kann ein Gericht eines Mitgliedstaats unter bestimmten Voraussetzungen seine Zuständigkeit für ein Sorgerechtsverfahren an das Gericht eines anderen Mitgliedstaats übertragen. In der Rechtssache TT ./. AK (C-87/22) hat der EuGH entschieden, dass in Fällen von Kindesentführungen auch ein nach Art. 10 EuEheVO 2003 zuständiges Gericht die Zuständigkeit auf ein Gericht des Staates übertragen kann, in den ein Kind entführt wurde. Der Beitrag begrüßt das, weist aber auf Probleme hin, die beide Gerichte dabei zu berücksichtigen haben. Außerdem werden mögliche Änderungen unter den nunmehr geltenden Art. 12, 13 EuEheVO 2019 erörtert.

D. Looschelders:
Fristwahrende Wirkung einer Ausschlagung der Erbschaft vor den Gerichten am gewöhnlichen Aufenthalt des Erben 293

Ob eine Ausschlagung der Erbschaft vor einem nach Art. 13 EuErbVO empfangszuständigen Gericht am gewöhnlichen Aufenthalt des Erben fristwahrende Wirkung hat, auch wenn die Erklärung des Erben nicht innerhalb der vom Erbstatut vorgesehenen Frist an das für die Nachlassabwicklung zuständige Gericht weitergeleitet wird, war bislang umstritten. In der vorliegenden Entscheidung hat der EuGH die fristwahrende Wirkung bejaht. Tenor und Begründung des Urteils deuten darauf hin, dass der EuGH die Frage, vor welchem Gericht die Ausschlagung zu erklären ist, als Formfrage qualifiziert. Die in Deutschland h.M. befürwortet dagegen nach wie vor eine materiell-rechtliche Qualifikation. Die Empfangszuständigkeit der Gerichte am gewöhnlichen Aufenthalt der Erben wird dabei als gesetzlich angeordneter Fall der Substitution verstanden. Die unterschiedliche Qualifikation hat im Anwendungsbereich von Art. 13 EuErbVO keine praktischen Auswirkungen. Divergierende Ergebnisse sind aber möglich, wenn ein Erbe die Erbschaft entsprechend dem Recht an seinem gewöhnlichen Aufenthalt nicht gegenüber einem Gericht ausschlägt oder wenn er die Ausschlagung vor einem drittstaatlichen Gericht erklärt. In diesen Fällen ist nur Art. 28 EuErbVO anwendbar, nicht aber Art. 13 EuErbVO. Da der EuGH mit dem Zusammenspiel beider Vorschriften argumentiert hat, kann insoweit eine erneute Vorlage an den EuGH erforderlich werden.

C.A. Kern/K. Bönold:
Sperrwirkung durch Stellung eines Insolvenzantrags bei Gerichten in Mitgliedstaaten und Drittstaaten nach der EuInsVO 2017 und InsO 298

Die „Galapagos-Saga“ illustriert den Streit um den COMI und die Sperrwirkung der Zuständigkeit bei der Stellung von Insolvenzanträgen in mehreren (Mitglied-)Staaten. Der EuGH bestätigte in seiner Vorabentscheidung vom 24. März 2022 (Rechtssache C-723/20 – Galapagos BidCo. Sárl ./. DE, Hauck Aufhäuser Fund Services SA, Prime Capital SA), dass trotz eines COMI-Shifts nach der Stellung eines Insolvenzantrags das Gericht des ursprünglich befassten Mitgliedstaates zuständig bleibe, während aus dem Erstantrag eine Sperrwirkung für die Gerichte von anderen Mitgliedstaaten resultiere. Aufgrund des Brexits musste der BGH in seiner Entscheidung vom 8. Dezember 2022 (IX ZB 72/19) das deutsche internationale Insolvenzrecht anwenden. Im Gegensatz zum EuGH entschied dieser, dass erst die Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine Sperrwirkung auslöse. Dies rückt die Frage nach einer einheitlichen Auslegung des europäischen und autonomen internationalen Insolvenzrechts in den Mittelpunkt.

 

Rezensierte Entscheidungen
(s. Seite III) 304

Materialien
338

Mitteilungen
(s. Seite III) 341

Internationale Abkommen
346

Schriftumshinweise
347

Neueste Informationen
II, IV ff.

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