Heft 6/2022 (November 2022)

Art. 21 Abs. 1 lit. b Ziff. i und Abs. 2 EuGVVO: Arbeitnehmer und Patronatsklage

EuGH 20.10.2022 – C-604/20 – ROI Land Investments Ltd ./. FD

  1. Art. 21 Abs. 1 lit. b Ziff. i und Abs. 2 EuGVVO ist wie folgt auszulegen:

Ein Arbeitnehmer kann eine Person mit oder ohne Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, an die er durch keinen förmlichen Arbeitsvertrag gebunden ist, die ihm gegenüber aber aufgrund einer Patronatsvereinbarung, von der der Abschluss des Arbeitsvertrags mit einem Dritten abhing, unmittelbar für die Erfüllung der Ansprüche gegen diesen Dritten haftet, vor dem Gericht des Ortes verklagen, an dem oder von dem aus er zuletzt gewöhnlich seine Arbeit verrichtet hat, wenn zwischen dieser Person und dem Arbeitnehmer ein Unterordnungsverhältnis besteht.

  1. Art. 6 Abs. 1 EuGVVO ist wie folgt auszulegen:

Der Vorbehalt hinsichtlich der Anwendung von Art. 21 Abs. 2 EuGVVO verwehrt es selbst dann dem Gericht eines Mitgliedstaats, sich, wenn die Anwendungsvoraussetzungen dieses Art. 21 Abs. 2 erfüllt sind, auf die Vorschriften dieses Mitgliedstaats über die gerichtliche Zuständigkeit zu berufen, wenn sie für den Arbeitnehmer günstiger wären. Sind hingegen weder die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 EuGVVO noch diejenigen der übrigen Vorschriften, die in Art. 6 Abs. 1 EuGVVO aufgeführt werden, erfüllt, steht es dem Gericht nach dieser letztgenannten Bestimmung frei, bei der Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit die genannten Vorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden.

  1. Art. 17 Abs. 1 EuGVVO und Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO sind wie folgt auszulegen:

Der Begriff der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit umfasst nicht nur eine selbständige Tätigkeit, sondern auch eine abhängige Beschäftigung. Bei einer zwischen dem Arbeitnehmer und einer Person, die nicht der im Arbeitsvertrag genannte Arbeitgeber ist, geschlossenen Vereinbarung, nach der diese Person gegenüber dem Arbeitnehmer unmittelbar für Ansprüche gegen den Arbeitgeber aus dem Arbeitsvertrag haftet, handelt es sich für die Anwendung dieser Vorschriften nicht um einen Vertrag, der ohne Bezug zu einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit oder Zielsetzung und unabhängig von einer solchen geschlossen worden wäre.

 

Art. 16, 20 und 26 EuMahnVO und nationale pandemiebedingte Sonderfristen

EuGH 15.9.2022 – C-18/21 – Uniqa Versicherungen AG ./. VU

Die Art. 16, 20 und 26 EuMahnVO sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung einer nationalen Regelung, die anlässlich des Ausbruchs der Covid-19-Pandemie erlassen wurde und durch die die Verfahrensfristen in Zivilsachen für etwa fünf Wochen unterbrochen wurden, auf die dem Antragsgegner in Art. 16 Abs. 2 EuMahnVO eingeräumte Frist von 30 Tagen zur Einlegung eines Einspruchs gegen einen Europäischen Zahlungsbefehl nicht entgegenstehen.

 

Art. 24 Nr. 4 EuGVVO und Drittstaatenpatente

EuGH 8.9.2022 – C-399/21 – IRnova AB ./. FLIR Systems AB

Art. 24 Nr. 4 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass er auf einen Rechtsstreit, bei dem im Rahmen einer auf eine behauptete Erfinder- oder Miterfinderstellung gestützten Klage festzustellen ist, ob eine Person Inhaber des Rechts an Erfindungen ist, die in Drittstaaten eingereichten Patentanmeldungen und erteilten Patenten zugrunde liegen, keine Anwendung findet.

 

 

Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F: Vertragsgerichtsstand und Drittbeziehungen

Schlussanträge des Generalanwalts Maciej Szpunar beim EuGH 16.6.2022 – C-265/21 – AB, AB-CD ./. Z EF

  1. Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. ist dahin auszulegen, dass seine Anwendung voraussetzt, dass eine von einer Person gegenüber einer anderen freiwillig eingegangene Verpflichtung bestimmt wird, auf die sich die betreffende Klage stützt, auch wenn diese Verpflichtung die Parteien des Rechtsstreits nicht unmittelbar bindet. Im Rahmen der Auslegung dieser Bestimmung hat das nationale Gericht darauf zu achten, dass das Gleichgewicht zwischen dem Ziel der Vorhersehbarkeit und der Rechtssicherheit und demjenigen der Nähe und einer geordneten Rechtspflege gewahrt wird.
  2. Für die Beurteilung der Grundlage einer Klage für die Feststellung, ob diese Klage einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. zum Gegenstand hat, ist das angerufene Gericht nicht verpflichtet, im Stadium der Zuständigkeitsprüfung die vertragliche Verpflichtung oder gegebenenfalls den Inhalt des fraglichen Vertrags oder der fraglichen Verträge zu prüfen. Bei der Prüfung, ob die wesentlichen Voraussetzungen seiner Zuständigkeit erfüllt sind, ermittelt dieses Gericht nur die Anknüpfungspunkte mit dem Staat des Gerichtsstands, die seine Zuständigkeit nach dieser Bestimmung rechtfertigen, und würdigt alle ihm vorliegenden Informationen, insbesondere die einschlägigen Behauptungen des Klägers zur Rechtsnatur der Verpflichtungen, auf die seine Klage gestützt wird, und gegebenenfalls die Einwände des Beklagten. Der Umstand, dass es sich bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Klage um eine Klage auf Anerkennung eines Eigentumsrechts handelt, hat keinen Einfluss auf die Tatsache, dass diese Klage einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ zum Gegenstand hat, und damit auf die Anwendung von Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F.
  3. Wenn die Klage auf Anerkennung eines Eigentumsrechts an einer beweglichen Sache auf zwei Verträge gestützt wird, die die Parteien des Rechtsstreits nicht unmittelbar binden, hat sie einen „Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag“ im Sinne von Art. 5 Nr. 1 EuGVVO a.F. zum Gegenstand. Der Vertrag, der bei der Bestimmung des Ortes der der Klage zugrunde liegenden Verpflichtung zu berücksichtigen ist, ist der ursprüngliche Vertrag, der Gegenstand des Rechtsstreits ist.

 

Art. 24 Nr. 1 S. 1 EuGVVO: Ferienhaus und weitere Dienstleistungen

Vorabentscheidungsersuchen des LG Düsseldorf 8.7.2022 – C-497/22

Ist Art. 24 Nr. 1 S. 1 EuGVVO dahingehend auszulegen, dass für einen Vertrag zwischen einer Privatperson und einem gewerblichen Vermieter von Ferienwohnungen über die kurzzeitige Gebrauchsüberlassung eines Bungalows in einem von dem Vermieter betriebenen Ferienpark, welcher neben der reinen Gebrauchsüberlassung als weitere Dienstleistungen eine Endreinigung und die Bereitstellung von Bettwäsche vorsieht, unabhängig von dem Umstand, ob der Ferienbungalow im Eigentum des Vermieters oder im Eigentum eines Dritten steht, der ausschließliche Gerichtsstand der belegenen Mietsache gilt?

 

Art. 7 Abs. 2 EuGVVO: Erfolgsort bei Konzerngesellschaftsschäden

Vorabentscheidungsersuchen der Kúria (Ungarn) 7.6.2022 – C-425/22

  1. Begründet der Ort des Sitzes der Muttergesellschaft als Ort des schädigenden Ereignisses im Sinne von Art. 7 Abs. 2 EuGVVO die gerichtliche Zuständigkeit, wenn eine Muttergesellschaft mit einer Klage auf Schadensersatz wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens eines Unternehmens ausschließlich den Ersatz von Schäden begehrt, die ihren Tochtergesellschaften im Zusammenhang mit dem wettbewerbswidrigen Verhalten entstanden sind?
  2. Ist es im Rahmen der Anwendung von Art. 7 Abs. 2 EuGVVO von Bedeutung, dass zum Zeitpunkt der verschiedenen streitgegenständlichen Erwerbe nicht alle Tochtergesellschaften zur Unternehmensgruppe der Muttergesellschaft gehörten?

 

Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich EuEheVO: Beginn der Wartefrist

Vorabentscheidungsersuchen des BGH 25.5.2022 – C-462/22

Beginnt die Wartefrist von einem Jahr bzw. sechs Monaten gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich EuEheVO für den Antragsteller erst mit der Begründung seines gewöhnlichen Aufenthalts im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts zu laufen oder genügt es, wenn bei Beginn der maßgeblichen Wartefrist zunächst nur ein schlichter Aufenthalt des Antragstellers im Staat des angerufenen Gerichts besteht und sich sein Aufenthalt erst danach im Zeitraum bis zur Antragstellung zu einem gewöhnlichen Aufenthalt verfestigt?

 

EuEheVO und spanische Privatscheidung

Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts Berlin 28.4.2022 – C-304/22

  1. Handelt es sich bei der Ehescheidung auf Grundlage der Art. 82, 87, 89, 90 span. Código Civil um eine Entscheidung über die Scheidung einer Ehe im Sinne der EuEheVO?
  2. Für den Fall der Verneinung der voranstehenden Frage: Ist eine Ehescheidung auf der Grundlage der Art. 82, 87, 89, 90 Código Civil/Spanien entsprechend der Regelung des Art. 46 EuEheVO zu öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen zu behandeln?

 

Art. 42 Abs. 1 S. 1 EuEheVO und eingeschränktes inhaltliches gerichtliches Prüfungsrecht

BVerfG 1.8.2022 – 1 BvQ 50/22

  1. Wenn eine vollstreckbare Entscheidung von einem Gericht eines Mitgliedstaats an ein für die Vollstreckung zuständiges deutsches Gericht zur Anerkennung gemäß Art. 42 Abs. 1 S. 1 EuEheVO übersandt wird, ist trotz des grundsätzlichen Prüfungsausschlusses im Rahmen des Art. 42 EuEheVO eine inhaltliche Prüfung der Entscheidung durch das deutsche Vollstreckungsgericht nicht pauschal unterbunden.
  2. Dieses eingeschränkte inhaltliche gerichtliche Prüfungsrecht erstreckt sich zunächst auf die Prüfung, ob in dem betreffenden Sachverhalt der Anwendungsbereich des Art. 42 EuEheVO eröffnet ist. Im Falle eines nicht eröffneten Anwendungsbereichs des Art. 42 EuEheVO, ist dem Vollstreckungsgericht weiterhin eine Prüfung etwaiger Vollstreckungshindernisse gestattet.

(Leitsätze von Karin Jackwerth, Köln)

 

Europäischer Vollstreckungstitel und Vollstreckungsversagung

BGH 7.7.2022 – IX ZB 38/21

Ein Antrag auf Versagung der Vollstreckung nach der EuGVVO ist unzulässig, wenn der Gläubiger aus einer als Europäischer Vollstreckungstitel bestätigten Entscheidung gegen den Schuldner vorgeht.

 

Perpetuatio fori im internationalen Insolvenzrecht

BGH 7.7.2022 – IX ZB 14/21

Die deutschen Gerichte bleiben für die Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, wenn der Eröffnungsantrag bei einem örtlich unzuständigen Insolvenzgericht gestellt worden ist und der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Verweisung an das örtlich zuständige Insolvenzgericht den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt.

 

Art. 10 III EGBGB: Rechtswahl und russischer Vatersname

BGH 29.6.2022 – XII ZB 153/21

  1. Zur Erstreckung der Rechtswahl nach Art. 10 Abs. 3 EGBGBauf den Vatersnamen russischen Rechts (Fortführung des Senatsbeschlusses vom 8. Dezember 2021 – XII ZB 60/18FamRZ 2022, 421).
  2. Die wirksame Ausübung des Wahlrechts nach Art. 10 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB dahingehend, dass für den Namen des Kindes das russische Heimatrecht des Vaters des Kindes maßgeblich sein soll, führt zu einer Sachnormverweisung (Art. 4 Abs. 2 EGBGB) in das materielle russische Namensrecht. Diese Rechtswahl erstreckt sich auch auf den Vatersnamen (Patronym), welcher neben Vor- und Familienname einer der drei nach russischem Recht grundsätzlich vorgesehenen Namensbestandteile ist. Die Verweisung bewirkt mithin, dass das betroffene Kind den Vatersnamen nach russischem Recht trägt.
  3. Nach Art. 10 Abs. 3 EGBGB können nur solche Rechtsordnungen gewählt werden, die eine Namenserteilung vorsehen, welche einen familiären Bezug erkennbar macht. Dieser erforderliche familiäre Bezug ist bei einem Zwischennamen wie dem Vaters- oder Muttersnamen, der die Verbindung zum Eigennamen eines Elternteils erkennen lässt, gewährleistet.
  4. Um die verschiedenen Erscheinungsformen des Namens in den unterschiedlichen Rechtsordnungen erfassen zu können, liegt dem kollisionsrechtlichen Namensbegriff notwendigerweise ein weites Verständnis zugrunde. Erfasst vom Begriff des Familiennamens i.S.d. Art. 10 Abs. 3 EGBGB sind daher – über den Familiennamen nach dem engen Begriffsverständnis des materiellen deutschen Namensrechts hinaus – alle Bestandteile eines ausländischen Namens, welche die Funktion erfüllen, die Abstammung einer Person sowie deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie zu kennzeichnen. Diese Funktion wird vom Vatersnamen nach russischem Recht jedenfalls dann erfüllt, wenn das Kind ehelich geboren wurde oder die nichteheliche Vaterschaft aufgrund eines Anerkenntnisses oder einer gerichtlichen Feststellung feststeht.

(Leitsätze 2 bis 4 von Mira Lindenberger, Köln)

 

Art. 7 Nr. 1b EuGVVO und Teilflüge

BGH 21.6.2022 – X ZR 22/21

Bei einem Luftbeförderungsvertrag über einen Flug, der in zwei Teilflüge unterteilt ist, begründet die Pflicht, den zweiten Teilflug vertragsgemäß durchzuführen und den Fluggast darauf zu befördern, keinen für die Begründung des Gerichtsstands des Erfüllungsorts (Art. 7 Nr. 1b EuGVVO) ausreichenden Bezug zu dem Ort, an dem der Umsteigevorgang stattfindet.

 

Europäisches Nachlasszeugnis und Grundbucheintrag

KG Berlin 22.9.2022 – 1 W 348/22

Die Zuweisung eines Grundstücks an einen von mehreren Erben in Anlage IV Ziffer 9 eines Europäischen Nachlasszeugnisses ist bei italienischem Erbstatut hinreichende Grundlage für eine berichtigende Eintragung des Erben als Alleineigentümer im Grundbuch.

 

Schiedsklausel im Gesellschaftsvertrag und Gesellschafterbeitritt

BayObLG 19.8.2022 – 102 SchH 99/21

  1. Für den der Gesellschaft bürgerlichen Rechts beitretenden Gesellschafter kann eine Schiedsklausel im Gesellschaftsvertrag bzw. eine Schiedsabrede nur dann Wirksamkeit entfalten, wenn eine dem Gesetz entsprechende formgerechte Vereinbarung zwischen den Gesellschaftern vorliegt; lediglich in Fallkonstellationen, in denen der Eintretende im Wege der Gesamt- oder Sonderrechtsnachfolge oder durch Ausübung eines rechtsgeschäftlichen Eintrittsrechts die Position eines anderen Gesellschafters übernimmt, bindet eine bestehende, rechtswirksam begründete Schiedsvereinbarung den neuen Gesellschafter, ohne dass es eines gesonderten Beitritts zum Schiedsvertrag in der Form des § 1031 ZPO bedarf.
  2. Im Verfahren nach § 1032 Abs. 2 ZPO ist derjenige darlegungs- und beweispflichtig für das wirksame Zustandekommen einer formgültigen Schiedsvereinbarung, der sich darauf beruft. Verbleibende Zweifel gehen – unabhängig von den jeweiligen Parteirollen – zu Lasten derjenigen Partei, die einen wirksamen Abschluss behauptet.

 

Ar. 1 lit. a und lit. b HKÜ und Rückführung in Drittstaat

KG Berlin 21.7.2022 – 16 UF 63/22

  1. Ar. 1 lit. a und lit. b HKÜ haben zum Ziel, die Wiederherstellung der durch den Entführer verfälschten Situation zu garantieren.

2.Eine „Rückführung“ in einen Drittstaat kommt dabei lediglich dann in Betracht, wenn hierdurch erreicht werden kann, dass das Kind in seine gewohnten Lebensumstände zurückgeführt wird.

  1. Dies kann nach dem Zweck des HKÜ insbesondere nur dann gewährleistet werden, wenn die Qualität der dort bestehenden familiären Bindungen und Beziehungen derart stark ist, dass sie geeignet sind, die mit dem Verlust des gewöhnlichen Aufenthalts verbundenen Schwierigkeiten zu überwinden, der Gefahr einer Entwurzelung entgegenzuwirken und das Kind in seiner Entwicklung zu stärken und ihm Halt zu geben.

(Leitsätze von Björn Flamme, Köln)

 

Sitzverlegung Personengesellschaft und Grundbuchvormerkung

OLG Brandenburg 9.6.2022 – 5 W 25/22

  1. Um eine Vormerkung im Grundbuch eintragen zu lassen, ist die Identität desjenigen, der die Eintragung der Vormerkung bewilligt, mit dem eingetragenen Berechtigten in Form des § 29 GBO nachzuweisen.
  2. Zur Erbringung dieses Nachweises für eine Personengesellschaft ist bereits ein Nachweis über die Identität der Handelsregister-Nummern von Bewilligendem und Berechtigtem ausreichend. Eine abweichende Anschrift im Handelsregister aufgrund einer Sitzverlegung lässt die Identität unberührt und ist somit unerheblich.

(Leitsätze von Karin Jackwerth, Köln)

 

Art. 4 HKÜ: Neubegründung Kindesaufenthalt

OLG Celle 6.8.2021 – 15 UF 58/21

  1. Bei einem Wechsel des Aufenthaltsortes des Kindes kann ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt (Art. 4 HKÜ) bei entsprechend deutlichen Indizien bereits nach kurzer Zeit angenommen werden, wobei die Anforderungen an die Dauer des Aufenthalts geringer sind, sofern dieser von vornherein auf längere Dauer angelegt und die Ausreise mit Zustimmung aller Sorgeberechtigten erfolgt ist. Dabei ist, auch wenn der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes eigenständig zu bestimmen ist, im Falle eines Umzugs der Bleibewillen des zur Aufenthaltsbestimmung berechtigten Elternteils Ausschlag gebend.
  2. Die Veränderung des Lebensmittelpunktes und damit des gewöhnlichen Aufenthaltes stellt einen Realakt dar. Bei Meinungsverschiedenheiten bezüglich dieses Aufenthaltswechsels ist nach § 1673 Abs. 2 S. 3 BGB die Meinung des minderjährigen Elternteils vorrangig gegenüber derjenigen des Vormundes. Dieser hat dementsprechend im Hinblick auf den Aufenthaltswechsel kein Vetorecht, seine Zustimmung ist nicht erforderlich.
  3. Die bloße Behauptung, durch die Anordnung der Rückgabe des Kindes würde dieses von dem entführenden Elternteil getrennt, da dieser keine Möglichkeit habe, mit dem Kind in den Staat, aus dem es entführt wurde, zu gehen und sich dort während eines dortigen Sorgerechtsverfahrens aufzuhalten, ist nicht ausreichend, um das Eingreifen des Ausnahmetatbestands des Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ zu begründen.

(Leitsätze von Mira Lindenberger, Köln)

 

Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO: Notwendiger wirtschaftlich relevanter Inlandsbezug

AG Köln 12.9.2022 – 148 C 333/21

  1. Nach dem in Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO kodifizierten Schutzlandprinzip ist bei einer (behaupteten) Verletzung geistigen Eigentums das Recht desjenigen Staates anzuwenden, für dessen Gebiet der Betroffene Schutz beansprucht. Macht der Kläger einen Anspruch nach dem deutschen UrhG geltend, so bringt er zum Ausdruck, urheberrechtlichen Schutz für die Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nehmen zu wollen, sodass deutsches Urheberrecht anzuwenden ist.
  2. Eine Verletzung deutschen Urheberrechts liegt indes nur dann vor, wenn die Verletzungshandlung einen wirtschaftlich relevanten Inlandsbezug aufweist, da ansonsten in letzter Konsequenz jeder Betreiber einer Internetseite sämtliche Urheberschutzvorschriften weltweit zu berücksichtigen hätte, was eine unzumutbare Bürde darstellen würde. Zudem käme die Anwendung deutschen Urheberrechts ohne Erfordernis eines solchen Inlandsbezugs letztlich einer Missachtung der Souveränität anderer Staaten gleich.
  3. Als Kriterien für beziehungsweise gegen das Vorliegen eines hinreichenden Inlandsbezugs können unter anderem die Sprache des Internetangebots, dessen Inhalt, Aufmachung und Bekanntheit im Inland, die verwendete Adresse oder Toplevel-Domain, die Art der angebotenen Inhalte, eventuell auf bestimmte Länder abgestimmte Liefer-/Zahlungsmodalitäten beziehungsweise Werbemaßnahmen oder auch das Vorhandensein eines relevanten inländischen Kundenkreises angeführt werden.

(Leitsätze von Mira Lindenberger, Köln)

 

Art. 6 Rom I-VO und missbräuchliche Rechtswahl

AG Bühl 4.8.2022 – 2 C 60/21

  1. Der vom EuGH in seiner „Amazon-Entscheidung“ im Zusammenhang mit Verbraucherverträgen (Art. 6 Rom I-VO) aufgestellte Grundsatz, dass eine Rechtswahlklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde und nach der auf einen auf elektronischem Weg mit einem Verbraucher geschlossenen Vertrag das Recht des Mitgliedsstaats anzuwenden ist, in dem der Gewerbetreibende seinen Sitz hat, nicht missbräuchlich i.S.v. Art. 3 Abs. 1 RL 93/13 EGW sein darf, indem sie den Verbraucher in die Irre führt, ist auch bei der Frage einer wirksamen Rechtswahl nach Art. 5 Rom I-VO maßgeblich. Bei der Beurteilung anhand der RL 93/13 EGW kommt es darauf an, ob es sich allgemein um einen Verbrauchervertrag handelt. Dies ist auch bei einem Beförderungsvertrag möglich.
  2. Bei der zu befördernden Person i.S.v. Art. 5 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 Rom I-VO ist auf den Vertragspartner des Luftfahrtunternehmens und nicht auf den hiervon unter Umständen verschiedenen Fluggast abzustellen, da eine solche Auslegung zu Rechtsunsicherheit und Wertungswidersprüchen führen würde: Zum einen würde an das Merkmal einer etwaigen Nicht-Vertragspartei angeknüpft, zum anderen kommt es bei Art. 5 Rom I-VO auch im Übrigen auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Vertragsparteien als Absender und Beförderer an.

(Leitsätze von Mira Lindenberger, Köln)

 

EuErbVO: Reichweite einer Rechtswahl, Anfechtungsstatut, Vorfrage der Pflichtteilsberechtigung

AG Hamburg-St. Georg 15.7.2022 – 970 VI 1412/19

  1. Im Zweifel ist zu vermuten, dass eine in einem Erbvertrag (oder einem Testament) getroffene Rechtswahl nicht nur für das Errichtungsstatut (Art. 25 Abs. 3 EuErbVO) erfolgt, sondern für das gesamte Erbstatut nach Art. 22 EuErbVO.
  2. Das Errichtungsstatut kann wegen Art. 26 Abs. 3 EuErbVO nur durch die Parteien des Erbvertrags gemeinsam abgeändert werden.
  3. Erfolgt die Erbeinsetzung in einem Erbvertrag in Form einer vertragsmäßigen Verfügung, ist auch eine konkludente Rechtswahl als vertragsmäßige Verfügung anzusehen (sofern die Vertragsparteien nichts anderes vereinbaren). Dies gilt sowohl im Hinblick auf das Errichtungsstatut (Art. 25 Abs. 3 EuErbVO) als auch im Hinblick auf das Erbstatut (Art. 22 EuErbVO).
  4. Die Anfechtbarkeit eines Erbvertrags beurteilt sich nach dem Errichtungsstatut (Art. 25 Abs. 3 EuErbVO). Dies gilt auch für die Anfechtung wegen Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten nach § 2079 BGB.

5.Die Frage, wer pflichtteilsberechtigt ist, ist als Vorfrage gesondert anzuknüpfen. Sie beurteilt sich nach dem allgemeinen Erbstatut (Art. 22 EuErbVO).

(Leitsätze von Tim Lanzius, Hamburg)

 

Art. 7 Abs. 1 EuGVVO bei Streit über Vertragsschluss

Højesteret 27.9.2022 – BS-44759/2021-HJR

Art. 7 Abs. 1 EuGVVO, welcher das Vorliegen einer vertraglichen Verpflichtung voraussetzt, kann auch dann angewendet werden, wenn zwischen den Parteien Uneinigkeit darüber besteht, ob ein Vertrag geschlossen wurde oder nicht. Es muss jedoch hinreichend glaubhaft gemacht worden sein, dass ein Vertrag zwischen den Parteien vorliegt.

(Leitsatz von Mira Lindenberger, Köln)

 

Schwerwiegende Kindeswohlgefährdung als Rückführungshindernis

OGH 17.8.2022 – 6 Ob 157/22i

Der Einwand einer schwerwiegenden Kindeswohlgefährdung kann nur dann erfolgreich einer zwangsweisen Durchsetzung der Rückführung des Kindes entgegengesetzt werden, wenn im konkreten Einzelfall nach Anordnung der Rückführung und vor Vornahme der Vollstreckung neue Umstände eingetreten sind, die bei Vollstreckung zum Eintritt einer solchen Kindeswohlgefährdung führen würden.

(Leitsätze von Karin Jackwerth, Köln)

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