Heft 3/2022 (Mai 2022)
Art. 8 EMRK: Kindesrückführung und Missbrauchsverdacht
EGMR 23.11.2021, Beschwerdenummer 12.937/20, S. N. und M. B. N. ./. Schweiz
In einem Kindesrückgabeverfahren nach dem HKÜ ist der von einem Kind mit ausreichender Einsichtsfähigkeit zum Ausdruck gebrachte Wunsch, bei seiner Mutter oder seinem Vater bleiben zu wollen, ein Schlüsselelement. Ein Widerstand von Seiten des Kindes, sich bei einem Elternteil in einem bestimmten Land niederzulassen, steht jedoch einer Rückgabe nicht zwingend im Weg. Dies ist etwa dann der Fall, wenn das Kind noch keinen ausreichenden Grad an Reife erlangt hat, um die Tragweite der mit Kindesentführung verbundenen – oftmals komplexen – Fragen zu begreifen.
Die von den Gerichten getroffene Anordnung, ein von seiner Mutter entführtes Kind gegen seinen Willen in das Land, wo auch sein unter dem Verdacht des Kindesmissbrauchs stehender Vater lebt, zurückzuschicken, stellt dann keine Verletzung von Art. 8 EMRK dar, wenn die Gerichte nach Durchführung eines fairen Verfahrens angemessene Schritte unternommen haben, um das Wohlergehen des Kindes im Zielstaat zu garantieren, und es die Heimreise mit seiner Mutter antreten kann, welche sich dort um das Kind kümmern wird.
Art. 3 HUP: Aufenthaltsbegründung durch Kindesentführung
EuGH 12.5.2022 – Rs. C-644/20 – W.J. ./. L.J., J.J.
Art. 3 HUP, das mit dem Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligt wurde, ist dahin auszulegen, dass bei der Bestimmung des Rechts, das auf den Unterhaltsanspruch eines minderjährigen Kindes anzuwenden ist, das von einem Elternteil in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbracht wurde, allein der Umstand, dass ein Gericht dieses Mitgliedstaats im Rahmen eines gesonderten Verfahrens die Rückkehr dieses Kindes in den Staat angeordnet hat, in dem es unmittelbar vor seinem Verbringen mit seinen Eltern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, es noch nicht ausschließt, dass das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats begründen kann.
Art. 10 Abs. 1 lit. a EuErbVO: Zuständigkeitsprüfung ex officio
EuGH 7.4.2022 – Rs. C-645/20 – VA, ZA ./. TP
Art. 10 Abs. 1 lit. a EuErbVO ist dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats von Amts wegen seine Zuständigkeit nach der in dieser Bestimmung vorgesehenen subsidiären Zuständigkeitsregel zu prüfen hat, wenn es, nachdem es auf der Grundlage der in Art. 4 der Verordnung aufgestellten allgemeinen Zuständigkeitsregel angerufen worden ist, feststellt, dass es nach letzterer Bestimmung nicht zuständig ist.
Art. 2 lit. a und Art. 39 EuGVVO: Exequatur der Exequatur?
EuGH 7.4.2022 – Rs. C-568/20 – J ./. H Limited
Art. 2 lit. a und Art. 39 EuGVVO sind dahin auszulegen, dass ein Beschluss mit einer Zahlungsanordnung, den ein Gericht eines Mitgliedstaats auf der Grundlage von in einem Drittstaat ergangenen rechtskräftigen Urteilen erlässt, eine Entscheidung darstellt und in den anderen Mitgliedstaaten vollstreckbar ist, wenn er am Ende eines kontradiktorischen Verfahrens im Ursprungsmitgliedstaat erlassen und dort für vollstreckbar erklärt wurde, wobei dieser Charakter als Entscheidung dem Vollstreckungsschuldner nicht das Recht nimmt, nach Art. 46 dieser Verordnung die Versagung der Vollstreckung aus einem der in Art. 45 der Verordnung genannten Gründe zu beantragen.
Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2017: Perpetuatio fori
EuGH 24.3.2022 – Rs. C-723/20 – Galapagos BicCo. Sàrl ./. DE, Hauck Aufhäuser Fund Services SA, Prime Capital SA
Art. 3 Abs. 1 EuInsVO 2017 ist dahin auszulegen, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens befasst ist, für die Eröffnung eines solchen Verfahrens weiter ausschließlich zuständig bleibt, wenn der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung über diesen Antrag in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird. Infolgedessen kann sich, soweit diese Verordnung auf diesen Antrag anwendbar bleibt, ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das später mit einem Antrag mit demselben Ziel befasst wird, grundsätzlich nicht für die Eröffnung eines Hauptinsolvenzverfahrens für zuständig erklären, solange das erste Gericht nicht entschieden und seine Zuständigkeit nicht verneint hat.
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO und Art. 4 Rom II-VO: Schadensersatzpflicht bei Sorgfaltspflichtsverstoß der Konzernobergesellschaft einer insolventen Enkelgesellschaft
EuGH 10.3.2022 – Rs. C-498/20 – ZK ./. BMA Braunschweigische Maschinenbauanstalt AG
1. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Ortes des Sitzes einer Gesellschaft, die die Forderungen ihrer Gläubiger nicht befriedigen kann, weil die Großmuttergesellschaft dieser Gesellschaft ihre Sorgfaltspflicht gegenüber deren Gläubigern verletzt hat, für die Entscheidung über eine Verbandsklage auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung oder einer Handlung, die einer unerlaubten Handlung gleichgestellt ist, oder aus Ansprüchen aus einer solchen Handlung, die der Insolvenzverwalter dieser Gesellschaft im Rahmen seiner gesetzlichen Aufgabe zur Verwertung der Insolvenzmasse zugunsten, jedoch nicht namens der Gesamtheit der Gläubiger erhoben hat, zuständig ist.
2. Die erste Vorlagefrage ist nicht anders zu beantworten, wenn berücksichtigt wird, dass im Ausgangsverfahren eine Stiftung zur Vertretung der kollektiven Interessen der Gläubiger tätig wird und die zu diesem Zweck erhobene Klage den individuellen Umständen der Gläubiger nicht Rechnung trägt.
3. Art. 8 Nr. 2 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Hauptprozesses, wenn es seine Entscheidung, mit der es sich für diesen Prozess für zuständig erklärt hat, aufhebt, automatisch seine Zuständigkeit für die vom Interventionskläger erhobene Klage verliert.
4. Art. 4 Rom II-VO ist dahin auszulegen, dass das auf eine Schadensersatzpflicht aufgrund der Sorgfaltspflicht der Großmuttergesellschaft einer insolventen Gesellschaft anzuwendende Recht grundsätzlich das Recht des Staates ist, in dem die Letztgenannte ihren Sitz hat, auch wenn das Bestehen einer Finanzierungsvereinbarung mit einer Gerichtsstandsklausel zwischen diesen beiden Gesellschaften ein Umstand ist, der eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat im Sinne von Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung aufweisen kann.
Art. 8 Rom II-VO: Folgesachen einer Gemeinschaftsgeschmacksmusterverletzungsklage
EuGH 3.3.2022 – Rs. C-421/20 – Acacia Srl ./. Bayerische Motoren Werke AG
Art. 88 Abs. 2 und Art. 89 Abs. 1 lit. d der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster sowie Art. 8 Abs. 2 Rom II-VO sind dahin auszulegen, dass die Gemeinschaftsgeschmacksmustergerichte, die mit einer Verletzungsklage nach Art. 82 Abs. 5 der Verordnung Nr. 6/2002 wegen im Hoheitsgebiet eines einzigen Mitgliedstaats begangener oder drohender Verletzungshandlungen befasst sind, die mit dieser Klage verbundenen Folgeanträge auf Schadenersatz, Auskunftserteilung, Belegherausgabe, Rechnungslegung und Herausgabe der nachgeahmten Erzeugnisse zum Zweck ihrer Vernichtung auf der Grundlage des Rechts desjenigen Mitgliedstaats prüfen müssen, in dessen Hoheitsgebiet die Handlungen begangen worden sind oder drohen, von denen behauptet wird, dass sie das Gemeinschaftsgeschmacksmuster verletzen; dies ist bei einer nach Art. 82 Abs. 5 erhobenen Klage das Recht des Mitgliedstaats, in dem diese Gerichte ihren Sitz haben.
Normkonflikte eines BIT bei EU-Beitritt
EuGH 25.1.2022 – Rs. C-638/19 P – Micula
Die in einem Bilateralen Investitionsschutzabkommen erklärte Zustimmung zu ICSID-Schiedsverfahren entfällt ab Beitritt des Vertragsstaats zur Europäischen Union. Diese Zustimmung beruht nämlich im Unterschied zu der Zustimmung, die im Rahmen eines Schiedsverfahrens in Handelssachen gegeben worden wäre, nicht auf einer spezifischen Vereinbarung, die die Parteiautonomie widerspiegelt, sondern leitet sich aus einem zwischen zwei Staaten geschlossenen Vertrag her, in dessen Rahmen diese Staaten allgemein und im Voraus übereingekommen sind, Rechtsstreitigkeiten, die die Anwendung und Auslegung des Unionsrechts betreffen können, zugunsten des Schiedsverfahrens der Zuständigkeit ihrer eigenen Gerichte zu entziehen.
Art. 16, 20 und 26 EuMahnVO und COVID-Sonderrecht
Schlussanträge des Generalanwalts Anzhony Collins beim EuGH 31.3.2022 – Rs. C-18/21
Die Art. 16, 20 und 26 EuMahnVO stehen dem Erlass einer nationalen Maßnahme unter den Umständen der COVID-19-Pandemie, durch die die in Art. 16 Abs. 2 dieser Verordnung geregelte Frist von 30 Tagen für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen Europäischen Zahlungsbefehl unterbrochen wurde, nicht entgegen.
Art. 8 EuZustVO, Art. 45 Abs. 1 lit. b, Art. 46 EuGVVO, Art. 47 EuGrCharta: Fristen, Sprachen, Anerkennungsversagung
Schlussanträge des Generalanwalts Priit Pikamäe beim EuGH 10.3.2022 – Rs. C-7/21
1. Art. 8 Abs. 1 und 3 EuZustVO ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung des Rechts des Urteilsstaats nicht entgegensteht, wonach die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, die durch ein gemäß der EuZustVO zugestelltes gerichtliches Schriftstück verkörpert wird, bereits mit der Zustellung des fraglichen Schriftstücks und nicht erst nach Ablauf der in Art. 8 Abs. 1 vorgesehenen einwöchigen Frist für die Verweigerung der Annahme des Schriftstücks zu laufen beginnt.
2. Art. 45 Abs. 1 lit. b und Art. 46 EuGVVO in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte sind dahin auszulegen, dass die Anerkennung und Vollstreckung einer nicht im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens ergangenen Entscheidung zu versagen ist, wenn ein Rechtsbehelf gegen die Entscheidung in einer Sprache eingelegt werden muss, die nicht die Amtssprache des Mitgliedstaats, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hat, oder, wenn es in diesem Mitgliedstaat mehrere Amtssprachen gibt, nicht die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Ortes ist, an dem er seinen Wohnsitz hat, und die nicht verlängerbare Frist für die Einlegung des Rechtsbehelfs nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die Entscheidung erlassen worden ist, nur acht Kalendertage beträgt.
3. Art. 18 AEUV ist dahin auszulegen, dass er nicht für einen Fall gilt, in dem der Empfänger eines gerichtlichen Schriftstücks auf die Ausübung seines Rechts verzichtet hat, die Zustellung dieses Schriftstücks gemäß Art. 8 Abs. 1 EuZustVO zu verweigern.
Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eines EU-Bediensteten, Art. 7 EuUnterhVO, Art. 47 EuGrCharta und forum necessitatis
Schlussanträge des Generalanwalts Maciej Szpunar beim EuGH 24.2.2022 – Rs. C-501/20
1. Der Status der Ehegatten als Vertragsbedienstete der Europäischen Union in einem Drittstaat stellt keinen wichtigen Gesichtspunkt für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts der Ehegatten dar, und zwar weder im Sinne der Art. 3 und 8 EuEheVO 2003 noch von Art. 3 EuUnterhVO.
2. Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts der Kinder im Sinne von Art. 8 EuEheVO 2003 können nicht nur Kriterien wie die Staatsangehörigkeit der Mutter, der Umstand, dass die Mutter vor ihrer Eheschließung in einem Mitgliedstaat gewohnt hat, die Staatsangehörigkeit der minderjährigen Kinder sowie deren Geburt in diesem Mitgliedstaat berücksichtigt werden.
3. Wenn das angerufene Gericht hinsichtlich des Scheidungsantrags seine Zuständigkeit nicht auf die Art. 3 bis 5 EuEheVO 2003 stützen kann, steht Art. 6 dieser Verordnung der Anwendung der in Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Vorschriften über die Restzuständigkeit entgegen, und folglich darf gegen den Antragsgegner, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, ein Verfahren nur vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats geführt werden.
Wenn das angerufene Gericht in Bezug auf die elterliche Verantwortung nach den Art. 8 bis 13 EuEheVO 2003 nicht zuständig ist, findet Art. 14 dieser Verordnung unabhängig vom gewöhnlichen Aufenthalt der Kinder und von der Staatsangehörigkeit des Antragsgegners Anwendung.
4. Art. 7 EuUnterhVO ist dahin auszulegen, dass sich die Notwendigkeit aus außergewöhnlichen, sehr schwerwiegenden oder dringenden Situationen ergeben kann, die die Annahme erlauben, dass es nicht zumutbar ist oder sich als unmöglich erweist, ein Verfahren in einem Drittstaat, zu dem der Rechtsstreit einen engen Bezug aufweist, einzuleiten oder zu führen. Diese Voraussetzungen sind u.a. erfüllt, wenn das Gericht des Drittstaats, zu dem der Rechtsstreit einen engen Bezug aufweist, die Ausübung seiner Zuständigkeit ablehnt oder wenn missbräuchliche verfahrensrechtliche Voraussetzungen vorliegen, wenn es wegen ziviler Unruhen oder wegen Naturkatastrophen gefährlich ist, sich an bestimmte Orte zu begeben, und wenn die normale Tätigkeit des Drittstaats nicht ausgeübt werden kann und schließlich, wenn der Zugang zu den Gerichten unangemessen behindert wird, insbesondere wenn die rechtliche Vertretung übermäßig kostspielig ist, Verfahren übermäßig lange dauern, schwerwiegende Korruptionsprobleme im Justizsystem bestehen oder wenn Mängel in Bezug auf die grundlegenden Garantien des fairen Verfahrens oder systemische Mängel vorliegen. Die Parteien müssen nicht nachweisen, dass sie in diesem Staat vergeblich ein Verfahren eingeleitet haben oder versucht haben, ein Verfahren einzuleiten.
5. Die Art. 7 und 14 EuEheVO 2003 über die subsidiäre Zuständigkeit im Bereich der Ehescheidung, der Trennung ohne Auflösung des Ehebandes bzw. der Ungültigerklärung einer Ehe und der elterlichen Verantwortung sowie Art. 7 EuUnterhVO über die Notzuständigkeit (forum necessitatis) in Unterhaltssachen sind vom angerufenen Gericht im Licht von Art. 47 der Charta auszulegen. Die nationalen Vorschriften über die Restzuständigkeit einschließlich derjenigen über die Notzuständigkeit sind im Licht dieses Artikels anzuwenden.
Wechselwirkungen von EuGVVO und CMR-Übereinkommen
Vorabentscheidungsersuchen des Lietuvos Aukščiausiasis Teismas (Litauen) 10.2.2022 – Rs. C-90/22
1. Kann Art. 71 EuGVVO unter Berücksichtigung der Art. 25, 29 und 31 sowie der Erwägungsgründe 21 und 22 dieser Verordnung dahin ausgelegt werden, dass er die Anwendung von Art. 31 des CMR-Übereinkommens auch in Fällen zulässt, in denen ein in den Anwendungsbereich dieser beiden Rechtsinstrumente fallender Rechtsstreit Gegenstand einer Gerichtsstandsvereinbarung ist?
2. Kann Art. 45 Abs. 1 lit. e Ziff. ii EuGVVO unter Berücksichtigung der Absicht des Gesetzgebers, Gerichtsstandsvereinbarungen in der Europäischen Union stärker zu schützen, erweiternd dahin ausgelegt werden, dass er nicht nur Kapitel II Abschnitt 6 dieser Verordnung, sondern auch Abschnitt 7 dieses Kapitels erfasst?
3. Kann der in der EuGVVO verwendete Begriff „öffentliche Ordnung" nach Prüfung der Besonderheiten des Sachverhalts und der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen dahin ausgelegt werden, dass er den Grund erfasst, dessentwegen einem Urteil eines anderen Mitgliedstaats die Anerkennung versagt wird, wenn die Anwendung eines besonderen Übereinkommens wie des CMR-Übereinkommens eine Rechtslage schafft, in der in derselben Rechtssache sowohl die Gerichtsstandsvereinbarung als auch die Rechtswahlvereinbarung nicht beachtet werden?
Art. 1 Abs. 1 EuGVVO: Behördliche Geldbuße wegen Wettbewerbsverstoß
Vorabentscheidungsersuchen der Cour d'appel de Paris (Frankreich) 2.2.2022 – Rs. C-98/22
Ist der Begriff „Zivil-und Handelssachen" nach Art. 1 Abs. 1 EuGVVO dahin auszulegen, dass er die Klage – und die daraufhin ergehende gerichtliche Entscheidung – umfasst, die (i) vom französischen Minister für Wirtschaft und Finanzen auf der Grundlage von Art. L442-6, I, Nr.2 (alt) des französischen Code de commerce gegen ein belgisches Unternehmen erhoben wurde, (ii) auf die Feststellung und Unterlassung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen und die Verhängung einer zivilrechtlichen Geldbuße gegen den mutmaßlichen Urheber dieser Verhaltensweisen abzielt und (iii) auf Beweisen beruht, die der Minister im Rahmen seiner speziellen Ermittlungsbefugnisse gesammelt hat?
Art. 18 Abs. 1 EuGVVO und örtliche Zuständigkeit
Vorabentscheidungsersuchen des AG Frankfurt a.M. 21.1.2022 – Rs. C-62/22
Ist Art. 18 Abs. 1 EuGVVO dahingehend auszulegen, dass die Vorschrift neben der Regelung der internationalen Zuständigkeit auch eine durch das entscheidende Gericht zu beachtende Regelung über die örtliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte in Reisevertragssachen trifft, wenn sowohl der Verbraucher als Reisender als auch sein Vertragspartner als Reiseveranstalter ihren Sitz im gleichen Mitgliedstaat haben, das Reiseziel aber nicht in diesem Mitgliedstaat, sondern im Ausland liegt mit der Folge, dass der Verbraucher Vertragliche Ansprüche gegen den Reiseveranstalter in Ergänzung nationaler Vorschriften an seinem Wohnsitzgericht einklagen kann?
Art. 15 EuEheVO 2003: Verweisung an Gericht des Entführungsstaats?
Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Korneuburg (Österreich) 4.1.2022 – Rs. C-87/22
1. Ist Art. 15 EuEheVO 2003 dahin auszulegen, dass das Ersuchen eines Mitgliedsstaats, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, in dem Fall, dass seines Erachtens ein Gericht eines anderen Mitgliedsstaats, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, den Fall oder einen bestimmten Teil des Falls besser beurteilen kann, sich für zuständig zu erklären, auch dann zulässig ist, wenn es sich bei dem anderen Mitgliedsstaat um einen Mitgliedsstaat handelt, in dem das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt nach einem widerrechtlichen Verbringen erlangt hat?
2. Für den Fall der Bejahung der Frage 1:
Ist Art. 15 EuEheVO 2003 dahin auszulegen, dass die darin genannten Kriterien für die Zuständigkeitsverschiebung abschließend geregelt sind, ohne dass es weiterer Kriterien mit Rücksicht auf ein eingeleitetes Verfahren nach Art. 8 f. des Haager Übereinkommens vom 25.10.1980 über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung bedarf?
Art. 75, Art. 22 EuErbVO: Rechtswahl und Drittstaatsangehörigkeit
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Opolu (Polen) 10.12.2021 – Rs. C-21/22
1. Ist Art. 22 EuErbVO dahin auszulegen, dass eine Person, die nicht Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist, für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht ihres Heimatstaats wählen kann?
2. Ist Art. 75 EuErbVO dahin auszulegen, dass im Fall des Bestehens eines bilateralen Abkommens zwischen dem Mitgliedstaat und dem Drittstaat, das zwar nicht die Frage der Rechtswahl in der Erbsache regelt, aber das darauf anwendbare Recht vorgibt, der Staatsangehörige dieses Drittstaats, der in dem Mitgliedstaat wohnt, der durch dieses bilaterale Abkommen gebunden ist, das anwendbare Recht wählen kann?
Auslegungsfragen der Art. 18 Abs. 1 EuGVVO und Art. 6 Rom I-VO
Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de Primera Instancia de Fuengirola (Spanien) 3.12.2021 – Rs. C-821/21
1. Steht im Fall von Verbrauchervertraägen, auf die Art. 18 Abs. 1 EuGVVO anzuwenden ist, eine Auslegung dahin, dass ausschließlich derjenige, der den Vertrag unterzeichnet hat, unter die in dieser Vorschrift verwendete Wendung „der andere Vertragspartner" fällt, so dass diese keine anderen als die natürlichen oder juristischen Personen einschließen kann, die ihn tatsächlich unterzeichnet haben, mit der genannten Verordnung im Einklang?
2. Steht im Fall einer Auslegung dahin, dass nur derjenige, der den Vertrag tatsächlich unterzeichnet hat, unter die Wendung „der andere Vertragspartner" fällt, wenn sowohl der Verbraucher als auch „der andere Vertragspartner" ihren Wohnsitz außerhalb Spaniens haben, eine Auslegung dahin, dass die internationale Zuständigkeit der spanischen Gerichte nicht dadurch begründet werden kann, dass zu der Unternehmensgruppe, der „der andere Vertragspartner" angehört, Gesellschaften mit „Wohnsitz" in Spanien gehören, die nicht an der Unterzeichnung des Vertrags beteiligt waren oder die andere Verträge als den unterzeichnet haben, dessen Nichtigkeit begehrt wird, mit Art. 18 Abs. 1 EuGVVO im Einklang?
3. Wenn „der andere Vertragspartner" im Sinne von Art. 18 Abs. 1 EuGVVO nachweist, dass er seinen Wohnsitz gem. Art. 63 Abs. 2 der Verordnung im Vereinigten Königreich hat, steht dann mit dieser Bestimmung eine Auslegung dahin im Einklang, dass der so bestimmte Wohnsitz die Wahlmöglichkeit begrenzt, die nach Art. 18 Abs. 1 EuGVVO ausgeübt werden kann? Und steht darüber hinaus mit dieser Bestimmung eine Auslegung dahin im Einklang, dass mit ihr nicht nur eine bloße „Vermutung tatsächlicher Art" eingeführt wird, dass diese Vermutung nicht widerlegt ist, wenn „der andere Vertragspartner" außerhalb des Gerichtsstands seines Wohnsitzes tätig ist, und dass „der andere Vertragspartner" nicht nachzuweisen hat, dass sein nach der genannten Vorschrift bestimmter Wohnsitz dem Ort entspricht, an dem er seine Tätigkeit ausübt?
4. Steht im Fall von Verbraucherverträgen, auf die die Rom I-VO anzuwenden ist, eine Auslegung dahin, dass Klauseln zur Bestimmung des anzuwendenden Rechts, die in die „allgemeinen Geschäftsbedingungen" des von den Parteien unterzeichneten Vertrags einbezogen sind oder die in einem gesonderten Dokument enthalten sind, auf das im Vertrag ausdrücklich verwiesen wird und dessen Aushändigung an den Verbraucher belegt ist, wirksam und anzuwenden sind, mit Art. 3 der genannten Verordnung im Einklang?
5. Steht im Fall von Verbraucherverträgen, auf die die Rom I-VO anzuwenden ist, eine Auslegung dahin, dass sich sowohl der Verbraucher als auch der andere Vertragspartner auf Art. 6 Abs. 1 der Verordnung berufen können, mit dieser Bestimmung im Einklang?
6. Steht im Fall von Verbraucherverträgen, auf die die Rom I-VO anzuwenden ist, mit Art. 6 Abs. 1 der Verordnung eine Auslegung dahin im Einklang, dass bei Vorliegen seiner Voraussetzungen das in dieser Bestimmung genannte Recht in jedem Fall gegenüber dem in Art. 6 Abs. 3 Rom I-VO genannten Recht vorrangig anzuwenden ist, auch wenn Letzteres im konkreten Fall für den Verbraucher günstiger sein mag?
Art. 34 Nr. 2 EuGVVO 2001: Bestimmtheitsanforderungen an das verfahrenseinleitende Schriftstück
BGH 10.3.2022 – IX ZB 36/20
[Im Rahmen der Nichtanerkennung einer Entscheidung gem. Art. 34 Nr. 2 EuGVVO 2001 müssen sich dem] verfahrenseinleitenden Schriftstück [...] mit Bestimmtheit zumindest Gegenstand und Grund des gegen den Beklagten gerichteten Antrags sowie die Aufforderung, sich vor Gericht einzulassen, oder, nach Art des laufenden Verfahrens, die Möglichkeit zur Einlegung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs entnehmen lassen.
Art. 19 Abs. 1 EGBGB: Dauerhafte Priorität der Vaterschaft ex lege
BGH 12.1.2022 – XII ZB 562/20
1. Führt eine der nach Art. 19 Abs. 1 EGBGB anwendbaren Rechtsordnungen zur gesetzlichen Vaterschaft eines Mannes, so wird dadurch die Anwendung einer anderen Rechtsordnung auf eine erst später erklärte Anerkennung der Vaterschaft eines anderen Mannes regelmäßig ausgeschlossen. Das gilt auch, wenn das die gesetzliche Vaterschaft ergebende Aufenthaltsstatut gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 1 EGBGB aufgrund eines erstmals nach der Geburt begründeten gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes anwendbar ist.
2. Verweist eine nach Art. 19 Abs. 1 EGBGB berufene Rechtsordnung auf ein anderes ausländisches Recht weiter oder auf das deutsche Recht zurück, so bleibt diese Verweisung unbeachtlich, wenn sie zum Wegfall einer sich aus dem von Art. 19 Abs. 1 EGBGB zunächst berufenen Recht ergebenden Vaterschaft.
3. Dass dadurch sogenannte hinkende Rechtsverhältnisse entstehen können, ist als Konsequenz der vom Gesetz bewusst vorgesehenen Mehrfachanknüpfung hinzunehmen. Eine nicht der leiblichen Abstammung entsprechende Vater-Kind-Zuordnung kann nur im Wege der Anfechtung nach dem gemäß Art. 20 EGBGB anwendbaren Statut beseitigt werden.
4. Steht die deutsche Staatsangehörigkeit des Kindes fest, ist die Auslandsgeburt nach § 36 PStG auch dann zu beurkunden, wenn der Eintrag gemäß § 21 PStG vom Antrag auf Nachbeurkundung abweicht. Anderes gilt im gerichtlichen Verfahren für den Anweisungsantrag nach § 49 PStG, der für das Gericht bindend ist.
Anerkennung einer spanischen Privatscheidung nach Art. 46 EuEheVO?
KG Berlin 28.4.2022 – 1 VA 2/22
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 1 Abs. 1a, Art. 2 Nr. 4, Art. 21 Abs. 1, Art. 46 EuEheVO folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
a) Handelt es sich bei der Ehescheidung auf Grundlage der Art. 82, 87, 89, 90 Código Civil/Spanien um eine Entscheidung über die Scheidung einer Ehe im Sinne der EuEheVO?
b) Für den Fall der Verneinung der voranstehenden Frage: Ist eine Ehescheidung auf der Grundlage der Art. 82, 87, 89, 90 Código Civil/Spanien entsprechend der Regelung des Art. 46 EuEheVO zu öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen zu behandeln?
(Einsender: Ronny Müller, Richter am KG)
US-Gesellschaft und Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO: Bei unterlassener Ad-hoc-Mitteilung Emittentenstatut statt Marktortanknüpfung
OLG Stuttgart 12.4.2022 – 1 U 205/18
1. Bei Unternehmen, die in den USA (hier: US-Staat Delaware) gegründet worden sind und dort ihren Sitz haben bzw. die außerhalb der USA (hier: Cayman Islands) gegründet worden sind und ihren Sitz nun in einem US-amerikanischem Bundesstaat haben (hier: US-Staat New York), nach dessen Recht die Gründung und Sitzverlegung anerkannt wird, ist nach Art. XXV Abs. 5 S. 2 des im Verhältnis zu den USA maßgeblichen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags vom 29.10.1954 von der nach dortigem Gründungsrecht gegebenen Rechtsfähigkeit auszugehen.
2. Dass die Klägerinnen aus den USA und damit aus einem Drittstaat kommen und gegen den Beklagten, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, klagen, hindert die Anwendung der EuGVVO nicht.
3. Das anwendbare Recht bestimmt sich bei Schadensersatzansprüchen wegen unterlassener Ad-hoc-Mitteilungen nach der deliktsrechtlichen Ausweichklausel in Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO und damit abweichend von der Grundregel in Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO. Somit ist im konkreten Fall deutsches Recht anzuwenden, weil an das Emittentenstatut und nicht an den Marktort anzuknüpfen ist. Berufen sich beide Seiten dezidiert auf die materiell-rechtlichen Regelungen aus § 37b WpHG a.F., ist ferner eine stillschweigende Rechtswahl im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Rom II-VO anzunehmen.
(Einsender: OLG Stuttgart; Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Art. 35 EuGVVO: Reale Verknüpfung bei einstweiligem Rechtsschutz gegen Luxemburger Online-Verkaufsplattform
OLG Hamburg 4.4.2022 – 15 W 18/22
1. Für die nach der EuGH-Rechtsprechung im Rahmen von Art. 35 EuGVVO nötige „reale Verknüpfung" zwischen dem Gegenstand der beantragten einstweiligen Maßnahme und der gebietsbezogenen gerichtlichen Zuständigkeit ist eine bloße Auswirkung des begehrten Unterlassens im Staat des angerufenen Gerichts nicht ausreichend. Art. 35 EuGVVO ist insofern enger auszulegen als Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Es kommt auf den Inhalt der begehrten Maßnahme an, nicht auf ihre Auswirkungen bzw. die Auswirkungen einer zuvor begangenen Zuwiderhandlung.
2. Zur Abgrenzung zwischen Art. 7 Nr. 1 und Nr. 2 EuGVVO: Begehrt der Antragsteller allein gestützt auf Lauterkeitsrecht das Unterlassen der Sperrung einer Funktion (hier: eines „Verlagskontos"), welche ihm vom Antragsgegner auf Grundlage eines Vertrags zur Verfügung gestellt wurde, so handelt es sich um einen Anspruch aus einem Vertrag im Sinne von Art. 7 Nr. 1 EuGVVO, wenn eine Vertragsauslegung unerlässlich ist, um zu klären, ob die Sperrung rechtmäßig oder rechtswidrig ist.
Art. 8 Rom I-VO: Rechtswahl durch Zustimmung zu Gewerkschaftspapier
LAG Düsseldorf 9.3.2022 – 12 Sa 352/21
1. Die Gesamtschau aller Umstände ergibt, dass von den Parteien die Anwendung von deutschem Arbeitsrecht und damit auch von deutschem Kündigungsschutzrecht gewollt ist, wenn sie ein Eckpunktepapier ausarbeiten und dieses gelten lassen wollen, in dem bestimmt wird, dass für die in Deutschland tätigen Arbeitnehmer deutsches Arbeitsrecht anzuwenden ist.
2. Im Ergebnis ist von den Parteien dann auch ein einfaches oder doppeltes Schriftformerfordernis aus dem ursprünglichen österreichischen Arbeitsvertrag stillschweigend abbedungen.
(Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Örtliche Zuständigkeit bei Dieselklagen
OLG München 7.3.2022 – 34 AR 132/21
1. Bei gegen den Hersteller gerichteten Individualklagen aus Anlass des sogenannten Abgasskandals richtet sich auch die örtliche Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO, wenn der Hersteller seinen Sitz in einem EU-Mitgliedsstaat hat.
2. Es ist jedenfalls nicht als willkürlich anzusehen, wenn das Gericht am Wohnsitz des Klägers das Verfahren an das Gericht, in dessen Bezirk der Kaufvertrag geschlossen wurde, verweist.
Keine Bescheinigung nach Art. 46 Abs. 3 lit. b EuErbVO für deutschen Erbschein
OLG Köln 2.3.2022 – 2 Wx 13/22
1. Eine Bescheinigung nach Art. 46 Abs. 3 lit. b EuErbVO i.V.m Anh. 1 der DV (EU) Nr. 1329/2014 kann nicht zum Nachweis der Wirkungen sowie der Bestandskraft eines in Deutschland erteilten Erbscheins ausgestellt werden.
2. Rechtsmittel gegen die Ablehnung der Ausstellung einer Bescheinigung nach Anh. 1 der DV (EU) Nr. 1328/2014.
Art. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EGBGB erlaubt einen Zweitvornamen
OLG Bamberg 28.1.2022 – 6 W 19/21
Nach einem Statutenwechsel zum deutschen Recht kann die eingebürgerte Person gemäß Art. 47 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 EGBGB einen zusätzlichen Vornamen annehmen, wenn sich ihr unter der Geltung des Herkunftsstatuts erworbener Vorname (hier: Hassan) nicht eindeutschen lässt.
Durchbrechung einer Abstammungsvermutung einer ausländischen Rechtsordnung durch Anerkennungserklärung
OLG Brandenburg 18.1.2022 – 7 W 117/21
Soll die Abstammungsvermutung einer ausländischen Rechtsordnung, die - wie die 300-Tage-Regel - der deutschen Rechtsordnung fremd ist, durch im Gleichrang konkurrierende Willenselemente überwunden werden, so ist nach einer möglichst weitgehenden Entsprechung für die Wirkung von Willenserklärungen zu suchen. Zur Durchbrechung einer Abstammungsvermutung, die auf den (Nach-)Wirkungen einer Ehe beruht, ist neben den Erklärungen des Anerkennenden und der Mutter auch die Zustimmung des (vormaligen) Ehemannes erforderlich.
Aufhebungsklage in UK sperrt nicht zwingend Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs in Deutschland
BayObLG 18.1.2022 – 101 Sch 60/21
1. Wenn im Herkunftsstaat des Schiedsspruchs ein Antrag im Sinne des Art. V Abs. 1 lit. e UNÜ gestellt worden ist, kann das Gericht das Verfahren der Vollstreckbarerklärung bis zum Abschluss des Verfahrens im Herkunftsstaat des Schiedsspruchs aussetzen, wenn es dies für angebracht hält, § 1061 Abs. 1 Satz 1 ZPO i. V. m. Art. VI UNÜ. Im konkreten Fall wurde eine Klage nach Section 68 Arbitration Act 1996 in England erhoben. Ist der Erfolg der Klage und die Dauer des Verfahrens im Herkunftsstaats aber ungewiss, kann das deutsche Gericht sein Ermessen dahingehend ausüben, dass es davon absieht, das Verfahren über die Vollstreckbarerklärung des Schiedsspruchs auszusetzen.
2. Da das Schiedsgericht nicht verpflichtet ist, im Rahmen der Beweiswürdigung auf jedes Ergebnis einer Beweiserhebung ausdrücklich einzugehen, liegt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht deshalb vor, wenn sich das Schiedsgericht mit dem Inhalt der Aussage eines von ihm aufgerufenen Zeugen, die für eine strittige Beweistatsache unergiebig war, nicht ausdrücklich befasst hat. In einem solchen Fall liegt auch keine Überraschungsentscheidung vor. Folglich widersprechen die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs nicht der deutschen öffentlichen Ordnung.
3. Das deutsche Recht kennt ferner keinen Rechtsgrundsatz, dass zwischen dem letzten Tag der mündlichen Verhandlung und dem Erlass des Urteils ein bestimmter Zeitraum nicht verstreichen darf, ab dem ein Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen ordre public zu bejahen wäre.
4. Das Gericht, das über Anerkennung und Vollstreckbarkeit des Schiedsspruchs entscheidet, ist befugt, den Tenor der schiedsrichterlichen auslegungsbedürftigen Entscheidung zu konkretisieren und diesen entsprechend den Anforderungen des deutschen Zwangsvollstreckungsrechts zu fassen.
(Einsender: Bayerisches Oberstes Landesgericht, Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Doppelte Eheschließung im Libanon und in Spanien ist keine Doppelehe, verlangt aber nur eine Scheidung
KG Berlin 14.1.2022 – 16 WF 1/22
1. Wenn Ehegatten, die zunächst im Libanon nach schiitischem Ritus vor dem Dschafariya-Gericht eine wirksame Ehe geschlossen habe und wenige Monate später in Spanien vor dem Standesamt die Ehe schließen, handelt es sich bei der zweiten Eheschließung nicht um eine Doppelehe, sondern um eine wiederholende Eheschließung.
2. Das Verbot der Doppelehe steht einer Wiederholung der Eheschließung mit demselben Ehegatten trotz bestehender Ehe nicht entgegen.
3. Eine wiederholt geschlossene Ehe ist nur einmal zu scheiden.
(Einsender: Dr. Martin Menne, Richter am Kammergericht)
Art. 4 Abs. 1 EuGVVO greift auch bei Drittstaatenbezug statt zu anderem Mitgliedsstaat
OLG Düsseldorf 13.1.2022 – 2 U 26/21
1. Der Anwendungsbereich des Art. 4 Abs. 1 EuGVVO ist auch dann in zeitlicher und räumlicher Hinsicht eröffnet, wenn beide Parteien ihren Wohnsitz in demselben Mitgliedsstaat haben und keinerlei Bezug zu einem weiteren Mitgliedsstaat aufweist.
2. Zwar ist für die räumliche Anwendbarkeit der EuGVVO ein Auslandsbezug erforderlich, aber ausreichend ist jeder grenzüberschreitende Anknüpfungspunkt. Es muss sich also nicht um den (Wohn-) Sitz einer oder beider Partner handeln.
3. Darüber hinaus ist für Art. 4 Abs. 1 EuGVVO anerkannt, dass ein Bezug zu einem weiteren Mitgliedsstaat nicht erforderlich ist und auch solche Sachverhalte in den räumlichen Anwendungsbereich der Vorschrift fallen, die nur einen einzigen Mitgliedsstaat und einen Drittstaat betreffen. Dies gilt auch für die Konstellation, dass sowohl Kläger als auch Beklagter ihren Wohnsitz in demselben Mitgliedsstaat haben und das streitige Ereignis in einem Drittstaat stattgefunden hat.
(Leitsätze von Livia Biasco, Köln)
Mehrfachwahl nach Art. 10 Abs. 2 und Abs. 3 EGBGB ist nicht ausgeschlossen
OLG Stuttgart 11.11.2021 – 8 W 274/21
1. Die in Art. 10 Abs. 2 Satz 3 EGBGB geregelte Verweisung auf § 1617c BGB setzt die Anwendbarkeit deutschen Rechts für den Geburtsnamen des Kindes voraus.
2. Haben die seinerzeit nicht verheirateten Eltern nach der Geburt ihres Kindes eine Rechtswahl nach Art. 10 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB getroffen und dabei den Geburtsnamen des Kindes nach dem ausländischen Recht eines Staates bestimmt, dem ein Elternteil angehört, so können sie nach ihrer späteren Eheschließung und einer hierbei gemäß Art. 10 Abs. 2 EGBGB getroffenen Wahl des deutschen Rechts sowie der hierauf beruhenden Bestimmung eines gemeinsamen Familiennamens gemäß § 1355 Abs. 1 Satz 1 BGB durch die Wahl des deutschen Rechts für den Familiennamen des Kindes gemäß Art. 10 Abs. 3 EGBGB in Anwendung des § 1617c I BGB die Erstreckung des Ehenamens auf den Geburtsnamen des Kindes erreichen.
3. Für die Frage, ob nach einer gemäß Art. 10 Abs. 3 EGBGB getroffenen Rechtswahl die in § 1617c Abs. 1 BGB reglementierte Altersgrenze für das Erfordernis einer Anschlusserklärung des Kindes erreicht ist, kommt es auf den Zeitpunkt der Rechtswahl an, wenn diese erst nach Bestimmung des Ehenamens vorgenommen wird.
Folgeentscheidung zu Achmea I: Keine Umgehungsmöglichkeit
Cour d´Appel de Paris 19.4.2022 – N° RG 20/13085 - N° Portalis 35L7-V-B7E-CCLDI
1. In Anlehnung an die Achmea-Entscheidung des EuGH sind Bestimmungen in BIT zwischen EU-Mitgliedstaaten über Investoren-Staat-Schiedsverfahren nicht wirksam. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das BIT die Anwendung nationalen oder europäischen Rechts festlegt. Auf solchen Bestimmungen beruhende Schiedssprüche müssen nicht berücksichtigt werden.
2. Ferner kann kein Schiedsvertrag, der direkt zwischen den Parteien besteht, angenommen werden. Auch die Einigung zwischen den Parteien auf ein Ad-hoc-Schiedsverfahren bedeutet eine Umgehung der Achmea-Entscheidung.
3. Es ist irrelevant, dass Österreich das Termination Agreement weder unterschrieben noch ratifiziert hat.
4. Der Vorrang des EU-Rechts verhindert, dass auf das Wiener Vertragsrecht oder sonstiges Schiedsverfahrensrecht abgestellt werden kann, um darzulegen, dass ein wirksamer Schiedsvertrag besteht.
(Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Folgeentscheidung zu Achmea II: Kein Verstoß gegen Treu und Glauben
Cour d´Appel de Paris 19.4.2022 – N° RG 20/14581 - N° Portalis 35L7-V-B7E-CCPBD
1. Für die Unwirksamkeit von Schiedsvereinbarungen im Rahmen von Intra-EU-BIT ist es unbeachtlich, dass sich eine der Parteien erst ein Jahr nachdem der Antrag auf Aufhebung des Schiedsspruchs gestellt wurde, auf die Achmea-Entscheidung beruft.
2. Es stellt keinen Verstoß gegen Treu und Glauben dar, wenn ein EU-Mitgliedstaat (hier: Polen) sich im konkreten Fall auf den Vorrang des EU-Rechts beruft, seine innerstaatlichen Gerichte aber in anderen Kontexten den Vorrang von EU-Recht vor nationalem Recht verneinten. Auch ein durch die Kommission eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren führt zu keinem anderen Ergebnis. Zu berücksichtigen ist in diesem Kontext zudem, dass Polen das Termination Agreement unterzeichnet hat und daher an Art. 7 lit. b des Vertrags gebunden ist, der vorsieht, dass der Vertragsstaat vor dem zuständigen nationalen Gericht darum bittet, den Schiedsspruch aufzuheben oder zu annullieren oder von dessen Anerkennung und Vollstreckung abzusehen.
3. Für die Anwendung des Achmea-Grundsatzes ist es unbeachtlich, dass das BIT, das dem Schiedsspruch zugrunde liegt, nicht festlegt, dass inländisches Recht angewendet werden muss, sondern dass das Recht aus dem BIT und sonstiges internationales Recht Anwendung findet. Zunächst ist es nämlich möglich, dass Rechtsfragen geklärt werden müssen, die durch europäisches Recht geregelt sind. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der EuGH in der Achmea-Entscheidung grundsätzlich über die Vereinbarkeit von Schiedsverfahrensklauseln in Intra-EU-BIT´s mit dem EU-Recht entschieden hat, ohne zu differenzieren, ob das BIT die Anwendung von nationalem oder europäischen Recht vorsieht oder nicht.
(Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Internationale Wohnsitzzuständigkeit bei Klagen gegen Vorstandsvorsitzenden in Untersuchungshaft
OLG Innsbruck 10.6.2021 – 2 R 113/21s
1. Im Rahmen der internationalen Zuständigkeit kommt es für die Bestimmung des Wohnsitzes des Beklagten gem. Art. 4 Abs. 1 EuGVVO und § 66 Abs. 1 JN (österreichische Jurisdiktionsnorm) auch bei jahrelangem Aufenthalt im Ausland darauf an, dass die Absicht besteht, die bisherige Wohnung in Österreich als Wohngelegenheit zu nutzen, und dass Umstände vorliegen, die eine dauernde Beziehung zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen. Auch wenn sich der Beklagte derzeit in Deutschland in einer Justizvollzugsanstalt in Untersuchungshaft befindet, ist die bisherige Wohnung sein Wohnsitz, wenn die Wohnung als Wohnsitz vom Beklagten weiterhin aufrecht gehalten und nicht aufgegeben wird.
2. Ist der Beklagte derzeit in Deutschland in Untersuchungshaft und wird vor österreichischen Gerichten verklagt, wird er nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK verletzt. Die Norm garantiert nämlich für Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche, in denen die Interessenwahrnehmung im Anwaltsprozess durch Parteienvertreter und im schriftlichen Verfahren durch die Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme erfolgt, kein unumschränktes Recht auf persönliche Anhörung
3. Da im vorliegenden Fall die Beurteilung, ob der Beklagte über einen Wohnsitz in Österreich verfügt, nach österreichischem Recht erfolgen kann und keine Auslegungszweifel bezüglich des europäischen Rechts bestehen, fehlt die Grundlage für ein Vorabentscheidungsverfahren an den EuGH.
(Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Schweizer ordre public: Biologische Vaterschaft ist keine Voraussetzung der Kindesanerkennung
Bundesgericht 21.2.2022 – 5A_822/2020
1. Das maßgebliche Recht bestimmt sich nach Art. 73 IPRG. Danach wird die im Ausland erfolgte Anerkennung des Kindes in der Schweiz anerkannt, wenn sie nach dem Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes, nach dessen Heimatrecht, nach dem Recht am Wohnsitz oder nach dem Heimatrecht der Mutter oder des Vaters gültig ist (Abs. 1). Es genügt (in favorem recognitionis) zur Anerkennung, wenn eine im Ausland erfolgt Kindesanerkennung nach einer in Art. 73 Abs. 1 IPRG genannten Rechtsordnung inhaltlich und der Form nach gültig ist.
2. Die im Ausland erfolgte Kindesanerkennung (Art. 73 IPRG), welche nach Art. 32 IPRG einzutragen ist, steht unter dem Vorbehalt des ordre public: Die Eintragung der ausländischen Kindesanerkennung wird nicht bewilligt, wenn deren Anerkennung in der Schweiz mit dem schweizerischen ordre public – den hiesigen rechtlichen und ethischen Wertvorstellungen – offensichtlich unvereinbar wäre (Art. 27 Abs. 1 i.V.m. Art. 32 Abs. 2 IPRG).
3. Nach schweizerischer Rechtsauffassung ist die biologische Vaterschaft nicht Voraussetzung zur Anerkennung. Auch die bewusst unrichtige Anerkennung ist wirksam und kann ebenfalls nur durch Anfechtungsklage beseitigt werden.