Heft 4/2021 (Juli 2021)
Kommission gegen UK-Lugano-Beitritt
Nach anfänglichen Berichten über eine bevorstehende Empfehlung zugunsten des Beitritts des Vereinigten Königreichs zum LugÜ 2007, hat sich die Europäische Kommission gegen den Beitritt des Vereinigten Königreichs zum LugÜ 2007 ausgesprochen. Eine entsprechende Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat zur Bewertung des Beitrittsersuchens des Vereinigten Königreichs zum LugÜ 2007 (COM [2021] 222 final) wurde am 4.5.2021 veröffentlicht. Für die Europäische Union sei das Lugano-Übereinkommen eine flankierende Maßnahme des Binnenmarktes und beziehe sich auf den EU-/EWR-Kontext. In Bezug auf alle anderen Drittländer bestehe die konsequente Politik der Europäischen Union darin, die Zusammenarbeit im Rahmen der multilateralen Haager Übereinkommen zu fördern. Das Vereinigte Königreich sei ein Drittland ohne besondere Verbindung zum Binnenmarkt. Daher gäbe es keinen Grund für die EU, von ihrem allgemeinen Konzept in Bezug auf das Vereinigte Königreich abzuweichen. Deshalb sollten die Haager Übereinkommen den Rahmen für die künftige Zusammenarbeit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich im Bereich der zivilrechtlichen Zusammenarbeit bilden.
PAX Moot 2021
Die Singapore Management University hat im PAX Moot 2021 (https://www.paxmoot.eu) gegen 22 andere studentische Teams aus 15 verschiedenen Staaten den ersten Platz errungen. Das Team des Kölner Instituts für internationales und ausländisches Privatrecht erreichte nach dem ersten Platz des Jahres 2020 in diesem Jahr Platz 2. Die Jury bildeten Prof. Dr. Ralf Michaels (Max-Planck-Insitut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg), Karen Vandekerckhove (Europäische Kommission) und Prof. Louise Ellen Teitz (Roger Williams University School of Law, Rhode Island).
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO und Persönlichkeitsrechtsverletzung im Internet: Individualisierende Anforderungen an den Anknüpfungspunkt des Mittelpunkts der Interessen einer Person
EuGH 17.6.2021 – Rs. C-800/19 – Mittelbayerischer Verlag KG ./. SM
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass das Gericht des Ortes, an dem sich der Mittelpunkt der Interessen einer Person befindet, die geltend macht, durch einen auf einer Website veröffentlichten Inhalt in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt worden zu sein, für die Entscheidung über eine von dieser Person erhobene Haftungsklage auf Ersatz des gesamten entstandenen Schadens nur dann zuständig ist, wenn der Inhalt objektive und überprüfbare Elemente enthält, anhand derer sich die Person unmittelbar oder mittelbar individuell identifizieren lässt.
Zuständigkeit nationaler Datenschutzbehörden zur wirksamen Durchsetzung der Datenschutzgrundverordnung in grenzüberschreitenden Sachverhalten
EuGH 15.6.2021 – Rs. C-645/19 – Facebook Ireland Ltd, Facebook Inc., Facebook Belgium BVBA ./. Gegevensbeschermingsautoriteit
1. Art. 55 Abs. 1 und die Art. 56 bis 58 sowie 60 bis 66 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) sind in Verbindung mit den Art. 7, 8 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass eine Aufsichtsbehörde eines Mitgliedstaats, die nach den zur Durchführung von Art. 58 Abs. 5 der Verordnung erlassenen nationalen Rechtsvorschriften befugt ist, vermeintliche Verstöße gegen die Verordnung einem Gericht dieses Mitgliedstaats zur Kenntnis zu bringen und gegebenenfalls die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens zu betreiben, von dieser Befugnis, wenn eine grenzüberschreitende Datenverarbeitung in Rede steht, Gebrauch machen darf, obgleich sie für diese Datenverarbeitung nicht die „zuständige federführende Aufsichtsbehörde" im Sinne von Art. 56 Abs. 1 der Verordnung ist, sofern es sich um einen der Fälle handelt, in denen die Verordnung 2016/679 der Aufsichtsbehörde eine Zuständigkeit einräumt, einen Beschluss zu erlassen, mit dem festgestellt wird, dass die fragliche Verarbeitung gegen die Vorschriften der Verordnung verstößt, und die in der Verordnung vorgesehen Verfahren der Zusammenarbeit und der Kohärenz eingehalten werden.
2. Art. 58 Abs. 5 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass die Ausübung der einer Aufsichtsbehörde eines Mitgliedstaats, die nicht die federführende Aufsichtsbehörde ist, nach dieser Vorschrift zustehenden Befugnis zur Klageerhebung bei einer grenzüberschreitenden Verarbeitung personenbezogener Daten nicht voraussetzt, dass der für die grenzüberschreitende Verarbeitung personenbezogener Daten Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter, gegen den die Klage erhoben wird, im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der fraglichen Aufsichtsbehörde eine Hauptniederlassung oder eine andere Niederlassung hat.
3. Art. 58 Abs. 5 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass die einer Aufsichtsbehörde eines Mitgliedstaats, die nicht die federführende Aufsichtsbehörde ist, nach dieser Vorschrift zustehende Befugnis, vermeintliche Verstöße gegen die Verordnung einem Gericht dieses Mitgliedstaats zur Kenntnis zu bringen und gegebenenfalls die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens zu betreiben, sowohl gegenüber der Hauptniederlassung des Verantwortlichen, die sich in dem Mitgliedstaat der Aufsichtsbehörde befindet, als auch gegenüber einer anderen Niederlassung des Verantwortlichen ausgeübt werden kann, sofern Gegenstand der Klage eine Datenverarbeitung ist, die im Rahmen der Tätigkeiten der Niederlassung erfolgt, und die genannte Behörde nach den Ausführungen zu Vorlagefrage 1 dafür zuständig ist, die Befugnis auszuüben.
4. Art. 58 Abs. 5 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass, wenn eine Aufsichtsbehörde eines Mitgliedstaats, die nicht die „federführende Aufsichtsbehörde" im Sinne von Art. 56 Abs. 1 der Verordnung ist, vor dem 25. Mai 2018, also bevor die Verordnung galt, wegen einer grenzüberschreitenden Verarbeitung personenbezogener Daten eine Klage erhoben hat, diese Klage unionsrechtlich auf der Grundlage der Vorschriften der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr aufrechterhalten werden kann, die für Verstöße gegen die in ihr enthaltenen Vorschriften, die bis zu dem Zeitpunkt begangen worden sind, zu dem die Richtlinie aufgehoben wurde, weiter gilt. Darüber hinaus kann eine solche Klage von der Aufsichtsbehörde auf der Grundlage von Art. 58 Abs. 5 der Verordnung 2016/679 wegen nach diesem Zeitpunkt begangener Verstöße erhoben werden, sofern es sich um einen der Fälle handelt, in denen die Verordnung einer Aufsichtsbehörde eines Mitgliedstaats, die nicht die „federführende Aufsichtsbehörde" ist, ausnahmsweise die Befugnis verleiht, einen Beschluss zu erlassen, mit dem festgestellt wird, dass die betreffende Datenverarbeitung gegen die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten verstößt, und die in der Verordnung vorgesehenen Verfahren der Zusammenarbeit und der Kohärenz eingehalten werden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
5. Art. 58 Abs. 5 der Verordnung 2016/679 ist dahin auszulegen, dass die Vorschrift unmittelbare Wirkung hat, so dass eine nationale Aufsichtsbehörde sich auf sie berufen kann, um gegen Private eine Klage zu erheben oder ein entsprechendes Verfahren fortzuführen, auch wenn die Vorschrift in der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats nicht speziell umgesetzt worden ist.
Art. 5 Abs. 1 EuGVVO: Arbeitsort einer Konsulatsmitarbeiterin
EuGH 3.6.2021 – Rs. C-280/20 – ZN ./. Generalno konsulstvo na Republika Bulgaria v grad Valensia, Kralstvo Ispania
Art. 5 Abs. 1 EuGVVO in Verbindung mit deren drittem Erwägungsgrund ist dahin auszulegen, dass er für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen einem Arbeitnehmer eines Mitgliedstaats, der keine hoheitlichen Aufgaben wahrnimmt, und einer konsularischen Behörde dieses Mitgliedstaats, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet, anwendbar ist.
Art. 7 Nr. 2 und Nr. 5, Art. 13 Abs. 2 EuGVVO und Klage des Erwerbers einer Deliktsforderung gegen den Haftpflichtversicherer
EuGH 20.5.2021 – Rs. C-913/19 – CNP spółka z ograniczoną odpowiedzialnością ./. Gefion Insurance A/S
1. Art. 13 Abs. 2 EuGVVO ist in Verbindung mit Art. 10 EuGVVO dahin auszulegen, dass er im Fall eines Rechtsstreits zwischen einem Gewerbetreibenden, der eine Forderung erworben hat, die ursprünglich einem Geschädigten gegen ein Haftpflichtversicherungsunternehmen zustand, und dem betreffenden Haftpflichtversicherungsunternehmen nicht anwendbar ist und es daher nicht ausschließt, dass die gerichtliche Zuständigkeit für einen solchen Rechtsstreit gegebenenfalls auf Art. 7 Nr. 2 oder auf Art. 7 Nr. 5 EuGVVO gestützt wird.
2. Art. 7 Nr. 5 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat aufgrund eines Vertrags mit einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherungsunternehmen in dessen Namen und für dessen Rechnung eine Tätigkeit der Schadensregulierung im Rahmen der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung ausübt, als Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn diese Gesellschaft
– auf Dauer als Außenstelle des Versicherungsunternehmens hervortritt und
– eine Geschäftsführung hat und sachlich so ausgestattet ist, dass sie in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese sich nicht unmittelbar an das Versicherungsunternehmen zu wenden brauchen.
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Reiner Vermögensschaden bei Kapitalanlagedelikten und Zusammenhang mit gesetzlichen Offenlegungspflichten
EuGH 12.5.2021 – Rs. C-709/19 – Vereniging van Effectenbezitters ./. BP plc
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass der unmittelbare Eintritt eines reinen Vermögensschadens auf einem Anlagekonto infolge von Anlageentscheidungen, die aufgrund von weltweit problemlos zugänglichen, aber unrichtigen, unvollständigen oder irreführenden Informationen eines internationalen börsennotierten Unternehmens getroffen wurden, es dann nicht erlaubt, in Anknüpfung an die Verwirklichung des Schadenserfolgs die internationale Zuständigkeit eines Gerichts des Mitgliedstaats zu bejahen, in dem die Bank oder die Investmentgesellschaft, bei der das Konto geführt wird, ihren Sitz hat, wenn für das betreffende Unternehmen in diesem Mitgliedstaat keine gesetzlichen Offenlegungspflichten gelten.
Art. 12 Abs. 1 lit. b Rom I-VO statt Art. 13 EuInsVO 2002 bei Insolvenzanfechtung
EuGH 22.4.2021 – Rs. C-73/20 – ZM als Insolvenzverwalter der Oeltrans Befrachtungsgesellschaft mbH ./. E. A. Frerichs
Art. 13 EuInsVO 2002 und Art. 12 Abs. 1 lit. b Rom I-VO sind dahin auszulegen, dass das nach der letztgenannten Verordnung auf einen Vertrag anzuwendende Recht auch für die Zahlung maßgeblich ist, die ein Dritter zur Erfüllung der vertraglichen Zahlungsverpflichtung einer Vertragspartei leistet, wenn diese Zahlung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens als Handlung, die die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligt, angefochten wird.
Intertemporaler Anwendungsbereich der Anerkennung nach der EuUnterhVO
EuGH 15.4.2021 – Rs. C-729/19 – TKF ./. Department of Justice for Northern Ireland
1. Art. 75 Abs. 2 lit. a EuUnterhVO ist dahin auszulegen, dass er nur für Entscheidungen gilt, die von nationalen Gerichten in Staaten erlassen wurden, die zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Entscheidungen bereits Mitglieder der Europäischen Union waren.
2. Die EuUnterhVO ist dahin auszulegen, dass keine Bestimmung dieser Verordnung es erlaubt, dass Unterhaltsentscheidungen, die in einem Staat vor dessen Beitritt zur Europäischen Union und vor dem Tag des Beginns der Anwendbarkeit dieser Verordnung ergangen sind, nach dem Beitritt dieses Staates zur Union in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt werden.
Art. 32 Abs. 2 EuInsVO 2002: Forderungsanmeldefristen bei Sekundärinsolvenzverfahren
Schlussanträge des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona beim EuGH 20.5.2021 – Rs. C-25/20
Art. 32 Abs. 2 EuInsVO 2002 ist dahin auszulegen, dass die Fristen für die Anmeldung von Forderungen, wenn der Verwalter eines Hauptinsolvenzverfahrens diese Forderungen in einem Sekundärinsolvenzverfahren anmeldet, sowie die Folgen einer verspäteten Anmeldung dem Recht des Staates unterliegen, in dem das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet worden ist.
EU-Blocking-Statutes zugunsten iranischer Unternehmen gegen US-Sekundärsanktionen vor dem EuGH
Schlussanträge des Generalanwalts Gerard Hogan beim EuGH 12.5.2021 – Rs. C-124/20
1. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2271/96 des Rates vom 22. November 1996 zum Schutz vor den Auswirkungen der extraterritorialen Anwendung von einem Drittland erlassener Rechtsakte sowie von darauf beruhenden oder sich daraus ergebenden Maßnahmen ist dahin auszulegen, dass er nicht nur dann Anwendung findet, wenn einer Person im Sinne von Art. 11 der Verordnung seitens der Behörden oder der Justiz eines Landes, dessen Gesetze und Rechtsvorschriften im Anhang der Verordnung aufgeführt sind, direkt oder indirekt Anweisungen erteilt worden sind. Das in dieser Bestimmung enthaltene Verbot findet somit auch dann Anwendung, wenn ein Wirtschaftsteilnehmer solchen Rechtsvorschriften nachkommt, ohne hierzu vorher durch eine ausländische Stelle der Verwaltung oder der Justiz verpflichtet worden zu sein.
2. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2271/96 ist dahin auszulegen, dass er einer Auslegung des nationalen Rechts entgegensteht, wonach eine Person im Sinne von Art. 11 dieser Verordnung ein Dauerschuldverhältnis mit einem Vertragspartner, der vom US-amerikanischen Office of Foreign Assets Control auf der Specially-Designated-Nationals-and-Blocked-Persons-Liste geführt wird, kündigen kann, ohne seine Entscheidung zur Kündigung dieser Verträge je rechtfertigen zu müssen.
3. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2271/96 ist dahin auszulegen, dass das nationale Gericht, das in einem Fall der Nichteinhaltung der Bestimmungen dieses Artikels von einem Primärsanktionen unterliegenden Vertragspartner angerufen wird, einer Person im Sinne von Art. 11 dieser Verordnung auferlegen muss, dieses Vertragsverhältnis aufrechtzuerhalten, auch wenn erstens Art. 5 Abs. 2 der Verordnung restriktiv auszulegen ist, zweitens eine solche Anordnung möglicherweise in Art. 16 der Charta der Grundrechte der Union eingreifen kann und drittens eine solche Person daher Gefahr läuft, dass die Behörden, die für die Anwendung eines der im Anhang der Verordnung aufgeführten Gesetze zuständig sind, schwere Strafmaßnahmen gegen sie verhängen.
Art. 69, Art. 70 Abs. 3 EuErbVO: Gültigkeitsdauer der Abschrift des Nachlasszeugnisses
Schlussanträge des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona beim EuGH 29.4.2021 – Rs. C-301/20
Art. 69 in Verbindung mit Art. 70 Abs. 3 der EuErbVO ist dahin auszulegen, dass die Wirkung der beglaubigten Abschrift eines Nachlasszeugnisses anzuerkennen ist, wenn sie bei ihrer erstmaligen Vorlage noch gültig war, aber vor der beantragten Entscheidung der Behörde abgelaufen ist.
Art. 8 Rom I-VO: Zwingende Mindestlohnvorschriften sind rechtswahlfest
Schlussanträge des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona beim EuGH 22.4.2021 – Verbundene Rs. C-152/20 u. C-218/20
1. Art. 8 Rom I-VO ist dahin auszulegen, dass, wenn das auf den Individualarbeitsvertrag anzuwendende Recht gewählt wurde, andere Rechtsordnungen, die mangels Rechtswahl nach Art. 8 Abs. 2, 3 oder 4 anwendbar gewesen wären, ausgeschlossen sind, sofern das Schutzniveau für den Arbeitnehmer im gewählten Recht dem Schutz, den die nicht abdingbaren Bestimmungen des Rechts bieten, das mangels Rechtswahl anwendbar gewesen wäre, entspricht oder darüber hinausgeht.
2. Die Mindestlohnvorschriften des Landes, in dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Tätigkeit ausgeübt hat, können grundsätzlich als „Bestimmungen ..., von denen nach dem Recht, das ... mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf" im Sinne von Art. 8 Abs. 1 Satz 2 Rom I-VO angesehen werden. Ob diese Regeln Vorrang haben, hängt davon ab, wie sie in der jeweiligen Rechtsordnung ausgestaltet sind, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
3. Die Art. 3 und 8 Rom I-VO sind dahin auszulegen, dass die – ausdrückliche oder implizite – Wahl des auf einen Individualarbeitsvertrag anzuwendenden Rechts durch beide Parteien frei erfolgen muss, was nicht der Fall ist, wenn eine nationale Rechtsvorschrift sie dazu verpflichtet, in den betreffenden Vertrag eine Rechtswahlklausel aufzunehmen. Diese Artikel verhindern jedoch nicht, dass der Vertrag aufgrund einer Entscheidung des Arbeitgebers eine entsprechende vorformulierte Klausel enthält, der der Arbeitnehmer zustimmt.
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Marktort als Preiskartelldeliktsort
Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour beim EuGH 22.4.2021 – Rs. C-30/20
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ist wie folgt auszulegen:
– Diese Vorschrift bestimmt das zuständige Gericht des Mitgliedstaats, in dessen Bezirk sich namentlich der unmittelbare Schadenserfolg verwirklicht hat.
– Bei einer Klage auf Ersatz des Schadens, der durch eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV verursacht wurde, die u.a. in Absprachen über Preise und Preiserhöhungen für bestimmte Gegenstände bestand, liegt der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs in dem Mitgliedstaat des durch diese Zuwiderhandlung betroffenen Marktes, in dem Mehrpreise gezahlt wurden. Das örtlich zuständige Gericht ist grundsätzlich das Gericht, in dessen Bezirk sich der Ort des Erwerbs dieser Gegenstände durch das Unternehmen, das seine Tätigkeit in demselben Staat ausübt, befindet; der Erwerb ist nach wirtschaftlichen Kriterien zu bestimmen. Stimmt der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs nicht mit dem Ort der Tätigkeit des Geschädigten überein, kann die Klage bei dem Gericht erhoben werden, in dessen Bezirk der Geschädigte seinen Sitz hat.
– Die Mitgliedstaaten sind befugt, die Behandlung der Rechtsstreitigkeiten im Rahmen ihrer Gerichtsorganisation unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität bei bestimmten Gerichten zu konzentrieren. Sie müssen insbesondere auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts darauf achten, dass die Regeln, die sie aufstellen oder anwenden, die effektive Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV nicht beeinträchtigen.
Unionsrechtliche Statusanerkennung und ihre Grenzen bei gleichgeschlechtlicher Ehe und gemeinsamer rechtlicher Elternschaft
Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott beim EuGH 15.4.2021 – Rs. C-490/20
1. Ein Mitgliedstaat ist gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG verpflichtet, für ein die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzendes Kind eines Ehepaars, das aus zwei Frauen besteht, die in der vom Geburts- und Wohnsitzmitgliedstaat ausgestellten Geburtsurkunde als Mütter dieses Kindes angegeben sind, ein Identitätsdokument und die erforderlichen Reisedokumente auszustellen, in denen diese beiden Frauen als dessen Eltern genannt sind, auch wenn das Recht des Herkunftsmitgliedstaats weder die Institution der Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts noch die Mutterschaft der Ehefrau der leiblichen Mutter eines Kindes anerkennt.
Art. 21 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass dieser Mitgliedstaat sich auch nicht mit derselben Begründung weigern kann, die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen diesem Kind und den beiden Frauen, die in der vom Wohnsitzmitgliedstaat ausgestellten Geburtsurkunde als dessen Eltern angegeben sind, für die Zwecke der Ausübung der Rechte anzuerkennen, die diesem Kind aus dem abgeleiteten Unionsrecht über die Personenfreizügigkeit erwachsen.
2. Art. 21 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass sich ein Mitgliedstaat nicht mit der Begründung, sein innerstaatliches Recht sehe weder das Institut der Ehe zwischen Personen gleichen Geschlechts noch die Mutterschaft der Ehefrau der leiblichen Mutter eines Kindes vor, weigern kann, die in der Geburtsurkunde eines anderen Mitgliedstaats festgestellten Verwandtschaftsbeziehungen zwischen einer seiner Staatsangehörigen, ihrer Ehefrau und dem Kind beider für die Zwecke der Ausübung der Rechte anzuerkennen, die dieser Staatsangehörigen aus dem abgeleiteten Unionsrecht über die Freizügigkeit erwachsen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats nach dem Recht ihres Herkunftsmitgliedstaats die leibliche oder die rechtliche Mutter dieses Kindes ist, und von der Staatsangehörigkeit des Kindes.
3. Die Berufung auf die nationale Identität im Sinne von Art. 4 Abs. 2 EUV kann die Weigerung rechtfertigen, die Abstammung eines Kindes im Verhältnis zu einem aus zwei Frauen bestehenden Ehepaar, wie sie in der vom Wohnsitzmitgliedstaat des Kindes ausgestellten Geburtsurkunde festgestellt worden ist, für die Zwecke der Ausstellung einer Geburtsurkunde seines Herkunftsmitgliedstaats oder desjenigen einer der beiden Frauen anzuerkennen, in der die Abstammung dieses Kindes im Sinne des Familienrechts des letztgenannten Mitgliedstaats bestimmt wird.
4. Die Rechtsfolgen des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union gemäß Art. 50 EUV wirken sich nicht auf die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits aus.
Art. 20 und 26 EuMahnVO und nationale Pandemie-Sonderfristen
Vorabentscheidungsersuchen des OGH (Österreich) 12.1.2021 – Rs. C-18/21
Sind die Art. 20 und 26 EuMahnVO dahin auszulegen, dass diese Bestimmungen einer Unterbrechung der in Art. 16 Abs. 2 EuMahnVO vorgesehenen Frist von 30 Tagen zur Erhebung eines Einspruchs gegen einen Europäischen Zahlungsbefehl durch § 1 Abs. 1 des österreichischen Bundesgesetzes betreffend Begleitmaßnahmen zu COVID-19 in der Justiz, wonach in Verfahren in bürgerlichen Rechtssachen alle verfahrensrechtlichen Fristen, deren fristauslösendes Ereignis nach dem 21.3.2020 eintritt oder die bis dahin noch nicht abgelaufen sind, bis zum Ablauf des 30.4.2020 unterbrochen werden und mit 1.5.2020 neu zu laufen beginnen, entgegenstehen?
Art. 6 Abs. 4 lit. c Rom I-VO bei Rohstoffinvestment in Teakholzbäume durch Verbraucher
Vorabentscheidungsersuchen des OGH (Österreich) 13.11.2020 – Rs. C-595/20
Ist Art. 6 Abs. 4 lit. c Rom I-VO dahin auszulegen, dass Kaufverträge über Teak- und Balsaholzbäume zwischen einem Unternehmen und einem Verbraucher, mit denen Eigentum an den Bäumen erworben werden soll, um sie nach Bewirtschaftung zu ernten und gewinnbringend zu verkaufen, und die zu diesem Zweck einen Pachtvertrag sowie einen Servicevertrag beinhalten, als „Verträge, die ein dingliches Recht an unbeweglichen Sachen oder die Miete oder Pacht unbeweglicher Sachen zum Gegenstand haben" im Sinn dieser Bestimmung anzusehen sind?
Entscheidung im Sinne der EuGVVO und drittstaatlichen Judikatschuld
Vorabentscheidungsersuchen des OGH (Österreich) 2.11.2020 – Rs. C-568/20
1. Sind die Bestimmungen der EuGVVO, insbesondere Art. 2 lit. a und Art. 39 EuGVVO dahin auszulegen, dass eine zu vollstreckende Entscheidung auch dann vorliegt, wenn der Titelschuldner in einem Mitgliedstaat nach summarischer Prüfung in einem kontradiktorischen Verfahren, aber nur im Hinblick auf die Bindung an die Rechtskraft eines gegen ihn in einem Drittstaat ergangenen Urteils zur Zahlung an die im Drittstaatverfahren obsiegende Partei im Sinne der drittstaatlichen Judikatschuld verpflichtet wird, wobei sich der Gegenstand des Verfahrens im Mitgliedstaat auf die Prüfung beschränkte, ob der Anspruch aus der Judikatschuld gegenüber dem Titelschuldner besteht?
2. Falls die Frage 1 verneint wird:
Sind die Bestimmungen der EuGVVO, insbesondere Art. 1, Art. 2 lit. a, Art. 39, Art. 45, Art. 46 und Art. 52 EuGVVO dahin auszulegen, dass die Vollstreckung unabhängig vom Vorliegen eines der in Art. 45 EuGVVO angeführten Gründe zu versagen ist, wenn die zu prüfende Entscheidung keine Entscheidung im Sinne der Art. 2 lit. a oder Art. 39 EuGVVO ist oder der der Entscheidung zugrundeliegende Antrag im Ursprungsmitgliedstaat nicht in den Anwendungsbereich der EuGVVO fällt?
3. Falls die erste Frage verneint und die zweite Frage bejaht wird:
Sind die Bestimmungen der EuGVVO, insbesondere Art. 1, Art. 2 lit. a, Art. 39, Art. 42 Abs. 1 lit. b, Art. 46 und Art. 53 EuGVVO dahin auszulegen, dass das Gericht des ersuchten Mitgliedstaats im Verfahren über den Antrag auf Versagung der Vollstreckung bereits aufgrund der Angaben des Ursprungsgerichts in der Bescheinigung nach Art. 53 EuGVVO zwingend davon ausgehen muss, dass eine in den Anwendungsbereich der Verordnung fallende und zu vollstreckende Entscheidung vorliegt?
Art. 3 EuEheVO und doppelter gewöhnlicher Aufenthalt?
Vorabentscheidungsersuchen der Cour d'appel de Paris (Frankreich) 30.6.2020 – Rs. C-289/20
Wenn sich – wie im vorliegenden Fall – aus dem Sachverhalt ergibt, dass einer der Ehegatten sein Leben in zwei Mitgliedstaaten verbringt, kann dann im Sinne des Art. 3 EuEheVO und für dessen Anwendung davon ausgegangen werden, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in zwei Mitgliedstaaten hat, sodass die Gerichte beider Mitgliedstaaten gleichermaßen zur Entscheidung über die Scheidung zuständig sind, wenn die in diesem Artikel genannten Voraussetzungen in diesen Mitgliedstaaten erfüllt sind?
Art. 7 Nr. 5 EuGVVO und Scheinniederlassung
BGH 16.3.2021 – X ZR 9/20
Gibt ein ausländisches Flugunternehmen im Impressum seiner Website eine vom Hauptsitz im Ausland abweichende Betriebsstätte in Deutschland an, darf ein Kunde, der über diese Website ein Vertragsangebot abgibt, dies in der Regel dahin verstehen, dass die angegebene Stelle im Namen des Stammhauses die Leistungen anbietet, Vertragsangebote entgegennimmt und gegebenenfalls deren Annahme erklärt. Entsprechend sind deutsche Gerichte für Klagen (hier: Schadensersatz wegen Nichterfüllung) gem. Art. 7 Nr. 5 EuGVVO international zuständig.
(Einsender: Marcus Mandl, LL.M. [Budapest]; Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Intertemporale Brexitfolgen im Registerrecht
BGH 16.2.2021 – II ZB 25/17
1. Bei der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde ist das zum Zeitpunkt der Rechtsbeschwerdeentscheidung geltende Recht anzuwenden. Das gilt auch, wenn das Gericht der Vorinstanz dieses Recht noch nicht berücksichtigen konnte.
2. Eine private company limited by shares mit satzungsmäßigem Sitz im Vereinigten Königreich, die eine inländische Zweigniederlassung anmelden will, kann sich nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union mit Wirkung zum 1.2.2020 und dem Ablauf des in Art. 126 des Austrittsabkommens bestimmten Übergangszeitraums am 31.12.2020 nicht mehr auf die auf die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49, 54 AEUV berufen. Auch die Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Juni 2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts ist nicht mehr auf die Anmeldung anzuwenden.
3. Die Verpflichtung zur Angabe des Stammkapitals nach § 13g Abs. 1, Abs. 3 HGB i.V.m. § 10 Abs. 1 GmbHG und die Verpflichtung des Geschäftsführers zur Abgabe einer Versicherung nach § 13g Abs. 2 Satz 2 HGB i.V.m. § 8 Abs. 3 GmbHG gebietet keine einheitliche richtlinienkonforme Auslegung über den Geltungsbereich der Richtlinie (EU) 2017/1132 hinaus.
(Einsenderin: Dr. Susanne Zwirlein-Forschner; Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)
UK-LLP und Steuerberatungstätigkeit in Deutschland
BGH 10.12.2020 – I ZR 26/20
Eine Limited Liability Partnership (LLP) mit Hauptsitz in London, die nicht zu den nach den §§ 3, 4 und 6 Nr. 4 StBerG zur geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen befugten Personen und Vereinigungen zählt, ist nicht nach § 3a Abs. 1 Satz 1 StBerG zur vorübergehenden und gelegentlichen geschäftsmäßigen Hilfeleistung in Steuersachen im Inland befugt, wenn sie über eine inländische Niederlassung verfügt.
Keine Kognitionsbefugnis beim Europäischen Zahlungsbefehl im Vollstreckungsstaat
OLG Brandenburg 2.6.2021 – 7 W 99/20
Die Voraussetzungen des Erlasses eines Europäischen Zahlungsbefehls werden ausschließlich im Ursprungsstaat geprüft, auch soweit ausnahmsweise eine Prüfung nach Erlass des Zahlungsbefehls zulässig ist. Auch das Einhalten prozessualer Mindestvoraussetzungen wird nicht im Vollstreckungsstaat geprüft.
Widerrechtliches Kindesverbringen unter Mitsorgeberechtigten
OLG Brandenburg 29.4.2021 – 15 UF 64/21
1. Nach kanadischem Recht können im Einzelfall auch Personen, von denen ein minderjähriges Kind nicht abstammt, sorgeberechtigte Befugnisse in Bezug auf das Kind erlangen, sodass bei einem Aufenthaltswechsel des Kindes durch eine andere sorgeberechtigte Person von einem HKÜ-Vertragsstaat in einen anderen ein widerrechtliches Verbringen i.S.d. Art. 3 S. 1 HKÜ vorliegen kann, das die mitsorgeberechtigte Person dazu berechtigt, einen Antrag auf Rückführung des Kindes nach Art. 8 Abs. 1 HKÜ zu stellen.
2. Die bloße Behauptung, die die Rückführung des Kindes beantragende Person habe sich nicht um die Ausübung des Sorgerechts bemüht, erfüllt nicht die Anforderungen an den Nachweis gem. Art. 13 Abs. 1 lit. a HKÜ, dass diese Person das Sorgerecht tatsächlich nicht ausgeübt hat.
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)
Belgischer Verkehrsunfall vor deutschen Gerichten
OLG Hamm 19.3.2021 – 7 U 27/19
1. Wird ein in Deutschland wohnender Deutscher bei einem Unfall durch ein Fahrzeug eines Belgiers in Belgien an seinem Eigentum geschädigt, kann er gemäß Art. 13 Abs. 2, Art. 11 Abs. 1 lit. b EuGVVO den in Belgien sitzenden Kfz-Pflichthaftpflichtversicherer an seinem Wohnsitz in Deutschland verklagen, weil das (nach Art. 18 Rom-II maßgebliche belgische Recht) in Art. 150 des Belgischen Versicherungsgesetzes vom 4. April 2014 und Art. 3 des Gesetzes über die Kraftfahrthaftpflichtversicherung vom 21. November 1989 ebenso wie das deutsche Recht in § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, § 1 PflVG einen Direktanspruch gegen den Kfz-Pflichthaftpflichtversicherer vorsieht.
2. Materiell anwendbar bei einem solchen Verkehrsunfall in Belgien ist, da Deutschland das Haager Übereinkommen über Straßenverkehrsunfälle von 1971 nicht ratifiziert hat, nach dem Tatortprinzip belgisches Recht gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom-II, wenn – wie hier – keine Rechtswahl im Sinne von Art. 14 Rom-II getroffen wurde sowie Art. 4 Abs. 2 und Abs. 3 Rom-II nicht anwendbar sind.
3. Das belgische Recht sah jedenfalls im Jahr 2017 keine dem deutschen Recht entsprechende Gefährdungshaftung wie in § 7 Abs. 1 StVG, sondern in Art. 1382, 1383 des belgischen Code Civil nur eine Verschuldenshaftung vor.
4. Der belgische Kfz-Pflichthaftpflichtversicherer hat gemäß Art. 150 des Belgischen Versicherungsgesetzes vom 4. April 2014 und Art. 3 des Gesetzes über die Kraftfahrthaftpflichtversicherung vom 21. November 1989 nicht nur für die Verschuldenshaftung des Kraftfahrzeugeigentümers einzustehen, sondern auch für die Verschuldenshaftung des Kraftfahrzeugführers.
5. Diese Haftung für den Kraftfahrzeugführer ist indes nach Art. 62 des Gesetzes über Versicherungen vom 4. April 2014 ausgeschlossen, wenn das Schadensereignis vorsätzlich herbeigeführt wird.
6. Mangels (Gefährdungs-)Haftung des Eigentümers nach belgischem Recht kommt es mithin anders als nach § 103 VVG für den Haftungsausschluss nicht darauf an, dass der Kraftfahrzeugführer dem Eigentümer/Halter als Versicherungsnehmer im Rahmen der Kfz-Haftpflichtversicherung (anders als in der Kaskoversicherung) auch nicht als Repräsentant zuzurechnen ist [...]. Eine etwaige Einwilligung der klagenden Partei muss der belgische Pflichthaftpflichtversicherer daher nicht beweisen.
Art. 1 Abs. 1, Art. 7 Nr. 1 EuGVVO und Gestattungsverfahren gemäß § 14 Abs. 3-5 TMG
OLG Köln 11.3.2021 – 15 W 10/21
1. Bei einem Gestattungsverfahren gemäß § 14 Abs. 3-5 TMG handelt es sich um eine Zivilsache i.S.d. Art. 1 Abs. 1 EuGVVO, sodass die Anwendung nationaler Zuständigkeitsregelungen ausgeschlossen ist.
2. Einer Zuordnung zu Art. 7 Nr. 1 EuGVVO steht nicht entgegen, dass es sich "nur" um ein Verfahren nach § 14 Abs. 4 TMG handelt.
3. Im Zweifel liegt der Erfüllungsort bei Dienstleistungsverträgen am Niederlassungsort.
(Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)
Deutsche Verbrauchergerichtszuständigkeit bei nordirischem Internetshop und weltweitem Versand
OLG Frankfurt 11.3.2021 – 6 U 273/19
Das Angebot eines in Nordirland ansässigen, englischsprachigen Internetshops zum weltweiten Versand begründet jedenfalls dann eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte, wenn auf einen Testkauf hin eine Lieferung nach Deutschland erfolgt. Dies begründet zugleich einen "commercial effect" in Deutschland mit der Folge, dass eine Markenverletzung in Deutschland vorliegt. [...]
Anwendbares Recht bei Ausgleichsanspruch zwischen zwei Haftpflichtversicherern
OLG Köln 9.3.2021 – I-9 U 230/20
1. Auf den Ausgleichsanspruch des deutschen Kraftfahrzeughaftpflichtversicherers einer Zugmaschine nach Regulierung eines Verkehrsunfallschadens gegen den österreichischen Versicherer eines mit dem Zugfahrzeug verbundenen Anhängers ist nach Art. 19 Rom II-Verordnung iVm Art. 7 Abs. 4 Buchst. b Rom I-Verordnung deutsches Recht anzuwenden.
2. Nach § 78 Abs. 2 S. 1 VVG haftet der Haftpflichtversicherer des Zugfahrzeugs und der österreichische Haftpflichtversicherer des Anhängers für die Folgen eines Verkehrsunfalls vom 20. Juni 2016 in Deutschland zu gleichen Teilen.
3. Der Innenausgleich zwischen dem Haftpflichtversicherer des Zugfahrzeugs und dem Haftpflichtversicherer des mit diesem verbundenen Anhängers kann nicht durch eine Subsidiaritätsvereinbarung des anderen Haftpflichtversicherers mit seinem Versicherungsnehmer ausgeschlossen werden.
4. Die Neuregelungen des Haftungsverhältnisses zwischen dem Halter des Zugfahrzeugs und dem Halter des Anhängers durch das Gesetz zur Haftung bei Unfällen mit Anhängern und Gespannen im Straßenverkehr vom 10. Juli 2020 (BGBl. 2020 Teil 1 Nr. 35 S. 1653, 1654) sind gemäß § 65 Abs. 6 StVG n.F. nicht anzuwenden, sofern der Unfall vor dem 17. Juli 2020 eingetreten ist.
Rechtsmissbräuchliche Rechtswahlklauseln
OLG Köln 29.1.2021 – I-9 U 184/20
Eine Rechtswahlklausel, die zum Ausdruck bringt, dass nur „Übereinkommen" und – nicht näher definierte – „einschlägige Gesetze" der Geltung des gewählten Rechts für das Vertragsverhältnis entgegenstehen können, ist rechtsmissbräuchlich i.S.v. Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Klausel-RL und infolgedessen unwirksam.
(Leitsatz von Hanna Freienstein, Köln)
Art. 7 Nr. 1 und Nr. 2 EuGVVO: Erfolgsort bei Glücksspieldelikt von Zahlungsdienstleistern
OLG Stuttgart 15.1.2021 – 5 U 11/20
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 AEUV zur Auslegung von Art. 7 Nr. 1 und Art. 7 Nr. 2 EuGVVO folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist ein bei isolierter Betrachtung und autonomer Interpretation deliktischer Anspruch bereits dann als vertraglicher Anspruch gemäß Art. 7 Nr. 1 EuGVVO zu qualifizieren, wenn der deliktische Anspruch irgendwie mit einem vertraglichen Anspruch konkurriert, ohne dass es für die Existenz des deliktischen Anspruchs auf die Auslegung des Vertrages ankäme?
2. Für den Fall der Verneinung von Frage 1: Wo ist der Erfolgsort im Sinne des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu lokalisieren, wenn ein Anbieter von Zahlungsdienstleistungen vom Konto eines Kunden elektronisches Geld auf das Empfangskonto eines Glücksspielunternehmens bei dem gleichen Zahlungsdienstleister überweist und in der Mitwirkung des Zahlungsdienstleisters an Zahlungen zu Gunsten des Glücksspielunternehmens eventuell eine unerlaubte Handlung zu erblicken ist?
(Einsender: OLG Stuttgart)
Belegenheitsort globalverbriefter Aktien
BayObLG 8.10.2020 – 101 SchH 120/20
Ein Vermögenswert in Form von globalverbrieften Aktien ist dort belegen, wo sich die Globalurkunde tatsächlich befindet.
(Leitsatz von David Faust, Köln)
Vorfrage des Bestehens einer wirksam geschlossenen Ehe nach libanesischem Recht im Scheidungsverfahren
OLG Düsseldorf 31.7.2020 – II-3 WF 44/20
1. Haben beide Beteiligte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, ist für den vor einem deutschen Gericht gestellten Scheidungsantrag gemäß Art. 8 lit a) EuScheidVO 2010 das materielle deutsche Scheidungsrecht anwendbar.
2. Die Vorfrage des Bestehens einer wirksam geschlossenen Ehe ist nicht nach dem Ehescheidungsstatut gemäß EuScheidVO 2010, sondern autonom nach dem Eheschließungsstatut aus Art. 13 EGBGB in Verbindung mit dem Formstatut nach Art. 11 EGBGB zu beantworten.
3. Die nach den einschlägigen kollisionsrechtlichen Vorschriften anwendbaren Vorschriften über die Eheschließung nach libanesischem Recht beinhalten bei Zugehörigkeit der Beteiligten zur muslimischen Glaubensgemeinschaft das Formerfordernis, der Eheschließung vor dem zuständigen religiösen Richter und der Anwesenheit von Zeugen. Waren bei der Eheschließung Zeugen in der erforderlichen Anzahl nicht zugegen, hindert dies nach dem Recht der sunnitischen Glaubensgemeinschaft die Wirksamkeit der Ehe, während nach dem für die Schiiten geltenden Recht die Zeugen lediglich der Beweiserleichterung dienen.
4. Die Vorlagepflicht aus § 133 Abs. 2 FamFG gilt grundsätzlich auch für ausländische Urkunden und damit auch für die ausländische Heiratsurkunde. Die Verpflichtung zur Beibringung einer Heiratsurkunde nach § 133 Abs. 2 FamFG entfällt, wenn der Antragsteller nicht in deren Besitz ist und er diese Urkunde (oder eine Ersatzurkunde) nicht oder nicht in zumutbarer Weise beschaffen kann. Hierzu bedarf es plausiblen und hinreichend substantiierten Vortrag zu den diesbezüglichen Bemühungen und dessen Scheitern.
(Einsender: VorsRiOLG Ludger Bischop)
Art. 15 Nr. 1 lit. c, Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ 2007, Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO bei Rohstoffinvestment in Tropenbäume durch Verbraucher
LG Hannover 2.6.2021 – 11 O 3/20
1. Für eine Klage deutscher Käufer, die von einem schweizer Unternehmen Bäume in Brasilien zum Zweck der Geldanlage gekauft haben und die ihr Geld zurückverlangen, sind deutsche Gerichte gem. Art. 15 Nr. 1 lit. c, Art. 16 Abs. 1 Alt. 2 LugÜ 2007 international zuständig.
2. In solchen Fällen ist gem. Art. 6 Abs. 1 Rom I-VO deutsches Recht anwendbar.
3. Den Käufern steht in solchen Fällen nach Ablauf von zwölf Monaten und vierzehn Tagen kein Widerrufsrecht mehr zu.
4. Die Käufer haben nach brasilianischem Recht Eigentum an den Bäumen erworben und sind insofern nicht getäuscht worden.
5. Den Käufern der Bäume hätte sich bei vernünftiger Betrachtung des Bauminvestments der vorliegenden Art aufdrängen müssen, dass etwa durch Schädlinge, Brände und Naturgewalten, durch eine Änderung des Holzabsatzmarktes, der politischen Lage sowie der Wechselkurse auch ein Totalverlust eintreten kann.
6. Das Unternehmen hatte keine Offenbarungspflicht bezüglich früherer Tätigkeiten des Geschäftsführers.
Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO und Urheberrechtsverletzung im Internet
AG Köln 13.4.2021 – 125 C 319/18
1. Ist auf eine Urheberrechtsverletzung, die aus einer ausländischen Internetseite, die Lichtbilder ohne die Zustimmung des Urhebers nutzt und im Inland abrufbar ist, hervorgeht, gem. Art. 8 Abs. 1 Rom II-VO deutsches Recht anzuwenden, so löst sie nur dann Ansprüche nach dem deutschen Urheberrechtsgesetz aus, wenn sie einen hinreichenden wirtschaftlich relevanten Inlandsbezug aufweist.
2. Ein derartiger Inlandsbezug besteht, wenn die Internetseite gezielt Personen im Inland ansprechen will. Dabei spielen insbesondere die Sprache, der Inhalt und die Aufmachung des Angebots, die Adresse und die Toplevel-Domain, die Natur der angebotenen Inhalte, die Existenz einer nicht nur unerheblichen Zahl von im Inland ansässigen Nutzern und die Bekanntheit des Angebots im Inland eine Rolle, nicht aber die persönlichen Lebensumstände des Urhebers (z.B. Staatsbürgerschaft, Wohnort im Inland, Bankkonto im Inland).
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)
Namensstatut von Mehrstaatlern und effektive Staatsangehörigkeit
OGH 20.4.2021 – 4 Ob 41/21i
1. Ist bei der Bestimmung des Personalstatuts einer natürlichen Person, die eine doppelte Staatsangehörigkeit besitzt, gem. § 9 Abs. 1 Satz 3 IPRG die Staatsangehörigkeit des Staates maßgebend, zu dem die stärkste Beziehung besteht, muss im Einzelfall allen in Betracht kommenden Umständen und tatsächlichen Lebensverhältnissen Rechnung getragen werden, wie etwa dem Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt, der Muttersprache, den verwandtschaftlichen oder gesellschaftlichen Beziehungen, der nationalen Einstellung, dem Zeitpunkt des Erwerbs der einzelnen Staatsangehörigkeiten, dem ius sanguinis, dem Militärdienst, dem Beruf usw., aber auch auf die Zukunft weisenden Argumenten.
2. Eine erhebliche Rechtsfrage kann bei Anwendbarkeit fremden Rechts nur dann vorliegen, wenn dieses unzutreffend ermittelt, eine in dessen ursprünglichem Geltungsbereich in Rechtsprechung und Lehre gefestigte Ansicht missachtet wurde oder dem Rechtsmittelgericht grobe Subsumtionsfehler unterlaufen sind, die aus Gründen der Rechtssicherheit richtiggestellt werden müssen. Insoweit fehlt es an einer Leitfunktion des Obersten Gerichtshofs.
3. Hat ein Minderjähriger die doppelte Staatsangehörigkeit und sehen die Rechtsordnungen der beiden Mitgliedstaaten vor, dass die Führung des Namens eines der Elternteile ebenso möglich ist wie die eines aus diesen Namen zusammengesetzten Doppelnamens, kann keine Rede davon sein, dass die nach dem Recht des einen Mitgliedstaates (hier: Deutschland) erfolgte Namensgebung des Mutternamens nach dem Recht des anderen Mitgliedstaates (hier: Italien) nicht möglich oder mit der Rechtslage des letzteren unvereinbar wäre, oder dass die beiden Rechtsordnungen erst durch Anpassungen in Einklang im Sinne des Kindeswohls zu bringen wären.
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)
Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Erfolgsort bei Dieselabgasmanipulation an KfZ
OGH 24.3.2021 – 3 Ob 24/21g
Kauft und übernimmt ein Verbraucher ein von Manipulation betroffenes Fahrzeug und überführt es anschließend in einen anderen Mitgliedstaat, so tritt das schädigende Ereignis i.S.d. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO am Kaufort ein.
(Leitsatz von Hanna Freienstein, Köln)
Art. 7 Rom II-VO und Climate Change Litigation
Rechtbank Den Haag (Niederlande) 26.5.2021 – C/09/571932 / HA ZA 19-379 – Milieudefensie et al. v. Royal Dutch Shell
1. Der Ausstoß von Kohlenstoffdioxid und anderen Treibhausgasen stellt eine Umweltschädigung i.S.v. Art. 7 Rom II-VO dar.
2. Eine enge Auslegung des Begriffs „schadensbegründendes Ereignis" bei der Anwendung von Art. 7 Rom II-VO entspricht weder den Eigenarten der Verantwortlichkeit für Umweltschädigungen und drohende Umweltschädigungen noch dem der Rechtswahl in Art. 7 Rom II-VO zugrundeliegenden Schutzgedanken.
3. Art. 7 Rom II-VO erlaubt die Einbeziehung von Sachverhalten, in denen mehrere schadensverursachende Ereignisse in mehreren Ländern festgestellt werden können, wie es für Umweltschäden und drohende Umweltschäden charakteristisch ist.
4. Die Umsetzung einer Unternehmenspolitik, die einen Einfluss auf die CO2-Emissionen des Konzerns hat oder haben kann, stellt eine eigenständige Schadensursache dar, die zu einer Umweltschädigung und einer drohenden Umweltschädigung beitragen kann. Sie kann daher das „schadensbegründende Ereignis" i.S. der Rom II-VO darstellen.
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)
Art. 7 Abs. 1 lit. b EuGVVO und Haftungsklage des Schiedsrichters
Tribunal judiciaire de Paris (Frankreich) 31.3.2021 – N° RG 19/00795 – N° Portalis 352J-W-B7D-COXPH
1. Die auf die Schlechterfüllung der im Rahmen des Schiedsvertrags eingegangenen Verpflichtungen gestützte Haftungsklage des Schiedsrichters, die einen anderen Streitgegenstand als das Schiedsverfahren hat, fällt nicht unter den in Art. 1 Abs. 2 lit. d EuGVVO vorgesehenen Ausschluss der Schiedsgerichtsbarkeit.
2. Das für diese Klage zuständige Gericht ist gem. Art. 7 Abs. 1 lit. b EuGVVO das Gericht des Ortes, an dem der Schiedsrichter seine Schiedsrichtertätigkeit effektiv und überwiegend ausgeübt hat.
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)
Kein forum non conveniens in kanadischem Schiedsverfahren
Ontario Superior Court of Justice (Kanada) 19.4.2021 – Kore Meals LLC v. Freshii Development LLC and Freshii Inc., 2021 ONSC 2896
Wird eine Rechtssache an ein Schiedsgericht verwiesen, können sich die Parteien nicht aus dem Grund, dass die Verfahrensdokumente in digitaler Form eingereicht werden und die Anhörung sowie die Zeugenvernehmung per Videokonferenz geführt werden, auf die Unbilligkeit oder mangelnde Praktikabilität dieser Verweisung berufen. Der forum non conveniens-Grundsatz ist insoweit nicht anwendbar.
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)