Heft 2/2021 (März 2021)

Art. 15 Abs. 1 EuGVVO 2001: Gewinnbringendes Dauer-Pokern macht noch keinen Poker-Unternehmer
EuGH 10.12.2020 – Rs. C-774/19 – A.B., B.B ./. Personal Exchange International
Art. 15 Abs. 1 EuGVVO 2001 ist dahin auszulegen, dass eine natürliche Person mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, die zum einen mit einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft einen Vertrag zu den von dieser Gesellschaft festgelegten Allgemeinen Geschäftsbedingungen geschlossen hat, um online Poker zu spielen, und zum anderen eine solche Tätigkeit weder amtlich angemeldet noch Dritten als kostenpflichtige Dienstleistung angeboten hat, nicht ihre Eigenschaft als „Verbraucher" im Sinne dieser Bestimmung verliert, selbst wenn sie täglich viele Stunden an diesem Spiel teilnimmt und dabei erhebliche Gewinne erzielt.


Geänderte Entsenderichtlinie und Art. 23 Rom I-VO
EuGH 8.12.2020 – Rs. C-620/18 – Ungarn ./. Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union
Art. 3 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1a ArbnEntRL n.F. stellen ihrer Natur und ihrem Inhalt nach spezielle Kollisionsnormen im Sinne von Art. 23 Rom I-VO dar.
(Leitsatz von Aaron Jeschor, Köln)


Geänderte Entsenderichtlinie und Art. 9 Rom I-VO
EuGH 8.12.2020 – Rs. C-626/18 – Polen ./. Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union
Art. 3 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1a ArbnEntRL n.F. stellen ihrer Natur und ihrem Inhalt nach spezielle Kollisionsnormen im Sinne von Art. 23 Rom I-VO dar. Zudem verstößt Art. 3 Abs. 1a ArbnEntRL n.F. nicht gegen eine Eingriffsnorm der Republik Polen im Sinne von Art. 9 Rom I-VO.
(Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)


Art. 7 Nr. 5 EuGVVO: KfZ-Schadensregulierer als Niederlassung des Versicherers
Schlussanträge des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona beim EuGH 14.1.2021 – Rs. C-913/19
Art. 7 Nr. 5 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass eine in einem Mitgliedstaat niedergelassene Gesellschaft des Handelsrechts, die aufgrund eines mit einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Versicherungsunternehmen geschlossenen Vertrags tätig wird, als eine „Zweigniederlassung, eine Agentur oder eine sonstige Niederlassung" dieses Versicherungsunternehmens angesehen werden kann, wenn kumulativ folgende Voraussetzungen vorliegen:
– die Gesellschaft ist in einem Mitgliedstaat tätig und reguliert dort Sachschäden im Rahmen einer Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung des Versicherungsunternehmens;
– die Gesellschaft tritt als Außenstelle des Versicherungsunternehmens auf;
– sie verfügt über eine Geschäftsführung und ist sachlich so ausgestattet, dass sie in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese, obgleich sie wissen, dass möglicherweise ein Rechtsverhältnis mit dem Versicherungsunternehmen begründet wird, sich nicht unmittelbar an dieses zu wenden brauchen.


Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Erfolgsort bei Kapitalanlagedelikt und weltweit veröffentlichten Anlageinformationen
Schlussanträge des Generalanwalts Manuel Campos Sánchez-Bordona beim EuGH 17.12.2020 – Rs. C-709/19
1. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO ist dahin auszulegen, dass
a) es keinen hinreichenden Anknüpfungspunkt für die internationale Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats darstellt, dass der Wertverlust der Aktien einer an den Börsen anderer Mitgliedstaaten notierten Gesellschaft sich auf Anlagekonten in dem erstgenannten Mitgliedstaat oder Anlagekonten bei einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Bank und/oder Investmentgesellschaft niederschlägt, wenn dieser Schaden die Folge von Anlageentscheidungen ist, die Anleger aufgrund von durch die börsennotierte Gesellschaft weltweit veröffentlichten, vorgeblich unrichtigen, unvollständigen und irreführenden Informationen getroffen haben;
b) weder das Bestehen einer Vereinbarung zwischen der beklagten Gesellschaft und einigen Anlegern aus einem Drittstaat, die den Klägern des Ausgangsverfahrens nicht angeboten wurde, noch der Umstand, dass einige dieser Kläger Verbraucher sind, als für die Zuweisung der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit nach Art. 7 Abs. 2 EuGVVO relevante spezifische Gegebenheiten anzusehen sind. Auch die weltweite Verbreitung der einschlägigen Informationen durch die beklagte Gesellschaft ist keine solche Gegebenheit.
2. Die Erhebung einer Verbandsklage nach den nationalen Verfahrensvorschriften durch eine Vereinigung, die die Interessen der geschädigten Wertpapierinhaber vertritt, hat keinen Einfluss auf die Auslegung von Art. 7 Abs. 2 EuGVVO.

Anwendbarkeit der EuEheVO bei italienischer „Privatscheidung"
Vorabentscheidungsersuchen des BGH 1.12.2020 – Rs. C-646/20
1. Handelt es sich bei einer Eheauflösung auf der Grundlage von Art. 12 des italienischen Gesetzesdekrets (Decreto Legge) Nr. 132 vom 12. September 2014 (DL Nr. 132/2014) um eine Entscheidung über die Scheidung einer Ehe im Sinne der EuEheVO?
2. Für den Fall der Verneinung von Frage 1: Ist eine Eheauflösung auf der Grundlage von Art. 12 des italienischen Gesetzesdekrets (Decreto Legge) Nr. 132 vom 12. September 2014 (DL Nr.132/2014) entsprechend der Regelung des Art. 46 EuEheVO zu öffentlichen Urkunden und Vereinbarungen zu behandeln?

Auslegung des Art. 10 Abs. 1 lit. a EuErbVO
Vorabentscheidungsersuchen der Cour de cassation (Frankreich) 1.12.2020 – Rs. C-645/20
Sind die Bestimmungen von Art. 10 Abs. 1 lit. a EuErbVO dahin auszulegen, dass, wenn der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes nicht in einem Mitgliedstaat hatte, das Gericht eines Mitgliedstaats, in dem der Erblasser nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, feststellt, dass der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Staates hatte und dort Vermögen besaß, von Amts wegen seine in dieser Vorschrift vorgesehene subsidiäre Zuständigkeit zu prüfen hat?

Art. 3 Abs. 1 und 2 HUP: Begründung neuen gewöhnlichen Aufenthalts bei widerrechtlichem Zurückhalten
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Okręgowy w Poznaniu (Polen) 26.11.2020 – Rs. C-644/20
Ist Art. 3 Abs. 1 und 2 HUP, das die Europäische Gemeinschaft durch den Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 (ABl. 2009, L331, S. 17) genehmigt hat, dahin auszulegen, dass die berechtigte Person, bei der er sich um ein Kind handelt, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat begründen kann, in dem sie widerrechtlich zurückgehalten wurde, wenn ein Gericht die Rückgabe der berechtigten Person in den Staat angeordnet hat, in dem sie unmittelbar vor dem widerrechtlichen Zurückhalten ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte?

Art. 3 Abs. 1 EuInsVO: Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen bei Verlegung der Hauptverwaltung nach Antrag auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens
Vorabentscheidungsersuchen des BGH 17.12.2020 – IX ZB 72/19
1. Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass eine Schuldnergesellschaft, deren satzungsmäßiger Sitz sich in einem Mitgliedstaat befindet, den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen nicht in einem zweiten Mitgliedstaat hat, in dem der Ort ihrer Hauptverwaltung liegt, wie er anhand von objektiven und durch Dritte feststellbaren Faktoren ermittelt werden kann, wenn die Schuldnergesellschaft unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens diesen Ort der Hauptverwaltung aus einem dritten Mitgliedstaat in den zweiten Mitgliedstaat verlegt hat, während in dem dritten Mitgliedstaat ein Antrag auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens über ihr Vermögen gestellt war, über den noch nicht entschieden ist?
2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen,
a) dass die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Schuldner bei Stellung eines Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, für die Entscheidung über die Eröffnung dieses Verfahrens international zuständig bleiben, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Entscheidung zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt, und
b) dass diese fortbestehende internationale Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedstaats die Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats für weitere Anträge auf Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens ausschließt, die nach der Verlegung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners in einen anderen Mitgliedstaat bei einem Gericht dieses anderen Mitgliedstaats eingehen?

Art. 10 EuEheVO und Perpetuatio fori
Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice, Family Division 16.11.2020 – Rs. C-603/20
Bleibt ein Mitgliedstaat, in dem ein Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, bevor es widerrechtlich in einen Nichtmitgliedstaat verbracht (oder dort zurückgehalten) wurde, wo es im Anschluss den gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, gemäß Art. 10 EuEheVO zeitlich unbegrenzt zuständig?

CISG und Einigung der Parteien auf eine Schiedsvereinbarung
BGH 26.11.2020 – I ZR 245/19
1. Das CISG findet auf die Frage der materiellen Einigung der Parteien auf eine Schiedsvereinbarung zumindest in den Fällen Anwendung, in denen mangels Einhaltung der Form des Art. II Abs. 2 UNÜ über den Meistbegünstigungsgrundsatz des Art. VII Abs. 1 UNÜ auf das nationale Sachrecht oder Kollisionsrecht zurückgegriffen werden kann. Die Formgültigkeit einer Schiedsvereinbarung richtet sich dagegen auch in einem dem CISG unterliegenden Vertrag nach den einschlägigen Spezialvorschriften wie dem UNÜ oder § 1031 ZPO.
2. Nach der Aufhebung der Art. 27 ff. EGBGB a.F. mit Wirkung vom 17.12.2009 und dem Inkrafttreten der Rom I-VO, die in ihrem Art. 1 Abs. 1 lit. e Schieds- und Gerichtsstandsvereinbarungen explizit vom Anwendungsbereich ausschließt, beurteilt sich das Zustandekommen und die Wirksamkeit einer Schiedsvereinbarung im Kollisionsfall nach Art. V Abs. 1 lit. a UNÜ.

Art. 17 Abs. 1 EuGVVO und Art. 15 Abs. 1 LugÜ 2007: Ansprüche aus einem Gesellschaftsvertrag als Verbrauchersache
BGH 20.10.2020 – X ARZ 124/20
1. Eine Verbrauchersache im Sinne des Art. 17 Abs. 1 EuGVVO und des Art. 15 Abs. 1 LugÜ 2007 kann auch dann vorliegen, wenn Ansprüche aus einem Gesellschaftsvertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden.
2. Die Zuständigkeit für Verbrauchersachen ist in Art. 15 bis Art. 17 LugÜ 2007 abschließend geregelt. Diese Regelung steht einer abweichenden Gerichtsstandsbestimmung nach Art. 6 Nr. 1 LugÜ 2007 oder § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO entgegen.
3. Wenn die Bestimmung eines gemeinsamen Gerichtsstands für alle Beklagten gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht möglich ist, kann eine Bestimmung für einzelne Beklagte erfolgen.
4. Wenn nach bereits erfolgter Klageerhebung gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO ein gemeinsamer Gerichtsstand bei einem anderen Gericht bestimmt wird, geht die Rechtshängigkeit grundsätzlich ohne weiteres auf dieses Gericht über. Werden mehrere Gerichtsstände bestimmt, obliegt die Entscheidung darüber, ob der Rechtsstreit gegen die einzelnen Beklagten vor zwei unterschiedlichen Gerichten weitergeführt werden soll, jedoch dem Kläger.

Art. 7 Nr. 5 EuGVVO und Binnenmarktniederlassung
OLG München 29.1.2021 – 20 U 820/20
Nimmt eine Person, die ihren Wohnsitz in einem EU-Mitgliedstaat hat, außerhalb ihres Wohnsitzstaates von einer Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat aus am Geschäftsverkehr teil und entsteht aus dieser Beteiligung ein Rechtsstreit, so kann sie gemäß Art. 7 Nr. 5 EuGVVO vor den Gerichten des Niederlassungsstaates verklagt werden.
(Leitsatz von Hanna Freienstein, Köln)

LugÜ und §§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 180 f. ZPO: Vollstreckung eines Auslandstitels und gescheiterte Ersatzzustellung im Inland
OLG Düsseldorf 14.1.2021 – I-3 Wx 221/19
1. Der Vollstreckbarerklärung eines auf Zahlung lautenden Entscheids eines Kantonsgerichts der Schweizerischen Eidgenossenschaft (aus September 2018) unter der Regie des LugÜ steht die Unwirksamkeit des im Juni/Juli 2018 unternommenen Zustellversuchs des verfahrenseinleitenden Schriftstücks in Deutschland nicht entgegen, wenn eine Ersatzzustellung in der Wohnung des Antragsgegners gemäß § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO oder durch Einlegen in den Briefkasten gemäß § 180 ZPO nicht möglich war (Name des Adressaten nicht auf dem Klingelschild verzeichnet; Haustürbriefkasten nicht in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet), sofern – wie hier - nichts gegen das Einlegen der Mitteilung gemäß § 181 ZPO in den in der Haustür angebrachten Briefkasten entsprechend der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Handhabung spricht.
2. Der Antragsgegner kann sich im Exequaturverfahren auf die seine Verteidigungsmöglichkeiten beschränkende Ineffektivität der fiktiven (öffentlichen) Zustellung („Weil die Übergabe des Schriftstücks und Einlegung in einen Briefkasten nicht möglich war, wurde das Schriftstück bei der hierfür bestimmten Stelle (Postcon-Depot...) niedergelegt. Die schriftliche Mitteilung über die Niederlegung wurde durch Einwurf in den Briefkasten abgegeben.") nicht berufen, wenn er, auch ohne dass ihm Mutwilligkeit vorzuwerfen ist, das Scheitern der Ersatzzustellung gemäß § 181 ZPO unter wertender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und Abwägung zwischen den maßgeblichen schützenswerten Interessen der Parteien (hier: durch unzureichende Beschriftung seiner Klingel) vorwerfbar mitverursacht hat.
(Einsender: RiOLG a.D. von Wnuck-Lipinski)

Personenstandsregister bei „männlicher Mutter"
KG 12.1.2021 – 1 W 1290/20
Ein österreichischer Frau-zu-Mann-Transsexueller, dessen Name in Österreich geändert und dessen Geschlecht im dortigen Zentralen Personenstandsregister berichtigt wurde, ist im Rechtssinn Mutter des von ihm in Deutschland geborenen Kindes. Er ist im Geburtenregister als Mutter des Kindes mit seinem aktuell geführten Vornamen und dem Geschlecht „männlich" einzutragen (Abgrenzung zu BGH, Beschluss vom 6.9.2017 – XII ZB 660/14 – FamRZ 2017, 1855; Senat, Beschluss vom 30.10.2014 – 1 W 48/14 – FamRZ 2015, 683).
(Einsender: RiKG Ronny Müller)

Käufervormerkung bei Gütergemeinschaft niederländischen Rechts
OLG Düsseldorf 22.12.2020 – I-3 Wx 137/20
1. Zur – vom Senat bejahten – Zulässigkeit der Eintragung einer Vormerkung im Grundbuch zur dinglichen Sicherung des Anspruchs des Käufers (einer Eigentumswohnung) auf „Erwerb des Eigentums zu Alleineigentum in Gütergemeinschaft niederländischen Rechts lebend".
2. Weist das Grundbuchamt in einem als „Zwischenverfügung gem. § 18 Abs. 1 GBO" bezeichneten Beschluss, bei dem es sich nicht um eine „rangwahrende Zwischenverfügung im Sinne von § 18 GBO" handele, auf ein der Vormerkung entgegenstehendes Eintragungshindernis hin (vorgemerkt werden könne nur eine nach dem Sachenrecht des BGB mögliche Eintragung; die Eintragung nicht des Eigentums sondern der Verfügungsberechtigung einer Person mit einem ein Gemeinschaftsverhältnis ausweisenden Zusatz gemäß § 47 GBO sei nach dem Sachenrechtskatalog des BGB nicht vorgesehen), so hat der Beschluss mangels Heilbarkeit des Mangels mit rückwirkender Kraft keinen nach § 18 GBO zulässigen Inhalt und ist daher aufzuheben.
(Einsender: RiOLG a.D. Peter von Wnuck-Lipinski)

„Anhängigkeit" im Sinne des Art. 67 Abs. 1 Satz 3 lit. a EuErbVO
OLG Stuttgart 15.12.2020 – 8 W 342/20
1. Anhängige Einwände im Sinne des Art. 67 Abs. 1 Satz 3 lit. a EuErbVO, die dazu führen, dass ein Europäisches Nachlasszeugnis nicht ausgestellt werden kann, sind nur solche, die anderweitig, also in einem anderen Verfahren anhängig sind. Demgegenüber sind Einwände, die ein Berechtigter unmittelbar gegenüber der Ausstellungsbehörde geltend macht, im Rahmen des Erteilungsverfahrens zu würdigen. Sie stehen nicht per se der Erteilung des Zeugnisses entgegen.
2. „Anhängigkeit" im Sinne des Art. 67 Abs. 1 Satz 3 lit. a EuErbVO bedeutet Einreichung einer Klage, mithin die Anhängigkeit eines Rechtsstreits in Bezug auf den zu bescheinigenden Sachverhalt.
3. Das Ausstellungsverfahren für das Europäische Nachlasszeugnis richtet sich grundsätzlich nach dem jeweiligen mitgliedsstaatlichen Verfahrensrecht. Die EuErbVO steht einer unterschiedlichen Prüfungstiefe durch die "Ausstellungsbehörde" nicht entgegen.
4. In der Bundesrepublik Deutschland verweisen die §§ 33 ff. des zur Durchführung der EuErbVO erlassenen Internationalen Erbrechtsverfahrensgesetzes (IntErbRVG) auf das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) und damit unter anderem auf § 26 FamFG. Die Prüfungskompetenzen von Nachlassgericht und Beschwerdegericht decken sich.

Sperrwirkung des Art. 16 HKÜ
OLG Brandenburg 14.12.2020 – 13 WF 205/20
1. Kann das angerufene Gericht wegen der von Art. 16 HKÜ angeordneten Sperrwirkung keine Sachentscheidung treffen, so ist ein während der Rechtshängigkeit eines Verfahrens nach dem HKÜ erhobener Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge als unzulässig abzuweisen.
2. Der Umstand, dass voraussichtlich demnächst zugunsten einer Partei über die Rückführung des Kindes entschieden werde, kann mangels des im Beschwerdeverfahren maßgeblichen letzten Erkenntnisstands des Gerichts, mithin der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung, nicht berücksichtigt werden.
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)

Nachlasspflegschaft bei Inlandsvermögen
OLG Köln 9.12.2020 – 2 Wx 293/20
1. Deutsche Gerichte sind international für die Anordnung der Nachlasspflegschaft für in Deutschland befindliche Vermögenswerte eines mit letztem gewöhnlichen Aufenthaltsort im Ausland verstorbenen Erblassers zuständig.
2. Die Anordnung und die Überwachung der Nachlasspflegschaft richtet sich nach deutschen Sachvorschriften, auch wenn auf die Erbfolge ausländisches Recht Anwendung findet.

Nicaraguanische Privatscheidung
KG 1.12.2020 – 1 VA 1001/20
Die Scheidung in gegenseitigem Einvernehmen vor einem nicaraguanischen Notar ist eine Privatscheidung ohne konstitutiven Hoheitsakt. Eine Anerkennung im Inland kommt bei Anwendung des deutschen Scheidungsstatuts nicht in Betracht.
(Einsender: RiKG Ronny Müller)

Art. 7 Nr. 1 EuGVVO und harte Patronatserklärung
OLG Brandenburg 25.11.2020 – 7 U 147/19
Wird eine in einem EU-Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft auf Erfüllung einer vermeintlichen Verpflichtung aus einer sogenannten harten Patronatserklärung verklagt, so bestimmt sich der Gerichtsstand gemäß Art. 7 Nr. 1 EuGVVO nach dem Gesellschaftssitz – gleichwohl, ob die Einstandspflicht der Beklagten als Dienstleistung im Sinne von Art. 7 Nr. 1 lit. b 2. Spiegelstrich EuGVVO oder als schlichte Zahlungspflicht aus einem Vertrag im Sinne von Art. 7 Nr. 1 lit. c, a EuGVVO zu qualifizieren ist.
(Leitsatz von Hanna Freienstein, Köln)

Anerkennungshindernisse nach FamFG
OLG Celle 17.11.2020 – 10 VA 1/20
1. Wird ein Antrag auf Anerkennung eines ausländischen Urteils aus verfahrensrechtlichen Gründen abgelehnt, so entfaltet diese Entscheidung keine Bindungswirkung nach § 107 Abs. 9 FamFG für künftige Verfahren oder gerichtliche Entscheidungen.
2. Im Anerkennungsverfahren nach § 109 Abs. 4 FamFG besteht eine Mitwirkungspflicht des antragstellenden Ehegatten, weshalb dessen Antrag aus verfahrensrechtlichen Gründen abgelehnt werden kann, wenn er die Beteiligung des anderen Ehegatten mangels Angaben zum unbekannten aktuellen Aufenthalt im Ausland nicht fördert und nichts zu seinen Ermittlungsbemühungen vorträgt.
3. Sofern das Anerkennungshindernis des fehlenden rechtlichen Gehörs gemäß § 109 Abs. 1 Nr. 2 FamFG mangels Rüge des Antragsgegners ausscheidet, kann gleichwohl der Versagungsgrund des ordre public nach § 109 Abs. 1 Nr. 4 FamFG in Betracht kommen, der allerdings restriktiv anzuwenden ist.

Zinswucher: § 138 BGB ist keine Eingriffsnorm und Grenzen des ordre public
LG Frankfurt a.M. 26.1.2021 – 2-14 O 396/18
1. Für § 38 Abs. 2 S. 1 ZPO kommt es auf den Zeitpunkt des Abschlusses der Gerichtsstandsvereinbarung an. Die allgemeinen Gerichtsstände der Vertragsparteien bei Klageerhebung sind ohne Bedeutung.
2. Der das Wucherverbot enthaltende § 138 Abs. 2 BGB und der das wucherähnliche Rechtsgeschäft verbietende § 138 Abs. 1 BGB sind keine Eingriffsnormen i. S. d. Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO.
3. Darlehenszinsen von 37,5 % pro Quartal und nach Verzugseintritt vereinbarte Zinseszinsen verstoßen bei Anwendbarkeit des Sachrechts der Russischen Föderation und einem nur schwachen Sachverhaltsbezug zur Bundesrepublik Deutschland nicht gegen den ordre public nach Art. 21 Rom I-VO.
(Einsender: RiLG Dr. Carl Friedrich Nordmeier)

Keine Mosaiktheorie betreffend die nationale örtliche Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO
LG Frankfurt a.M. 23.12.2020 – 2-03 O 418/20
1. In der Entscheidung „Svensk AB" hat der EuGH nicht entschieden, dass die Mosaiktheorie auf die nationale örtliche Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu übertragen ist.
2. [...]
3. Zur Anwendung des Herkunftslandprinzips nach § 3 Nr. 2 TMG und des ausländischen Rechts nach § 293 ZPO im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahren.
4. Zur Beschränkung des Unterlassungstenors auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.

Erfolgsort bei reinem Vermögensschaden infolge Erwerbs von sogenannten Token
LG Berlin 27.5.2020 – 2 O 322/18
1. Der Ort des Schadenseintritts nach Art. 4 Abs. 1, 12 Abs. 2 lit. a Rom II-VO bestimmt sich im Falle des bloßen Vermögensschadens wegen des Erwerbs von sogenannten Token nicht nach dem Ort, an dem der Geschädigte die Überweisung zum Tokenerwerb getätigt hat, sondern nach dem Ort, an dem das Geld des Geschädigten digital verwahrt wurde, das zur Bezahlung der Token aus seinem Vermögen abgeflossen ist.
2. Lässt sich der Ort des primären Vermögensschadens nicht bestimmen und haben Geschädigter und Haftender zur Zeit des Schadenseintritts nicht im selben Staat ihren gewöhnlichen Aufenthalt, kommt es darauf an, mit welchem Staat die Handlung die engste Verbindung aufweist.
(Leitsätze von Hanna Freienstein, Köln)

Kein Art. 8 Nr. 2 EuGVVO bei Art. 65 Abs. 1 EuGVVO
OGH 8.7.2020 – 7 Ob 1/20b
Die Zuständigkeit von österreichischen Gerichten für Gewährleistungs- und Interventionsklagen nach Art. 8 Nr. 2 EuGVVO kann gemäß Art. 65 Abs. 1 EuGVVO nicht in Anspruch genommen werden.
(Leitsatz von Hanna Freienstein, Köln)

Sachstatut und erbrechtliches Aufgriffsrecht
OGH 29.6.2020 – 2 Ob 59/19v
1. Die Rechte an unbeweglichen Sachen richten sich sowohl nach alter wie neuer Rechtslage nach der lex rei sitae.
2. Das Aufgriffsrecht ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Es ist das einem Erben oder einem Dritten durch letztwillige Verfügung eingeräumte Recht, den Nachlass oder bestimmte Teile davon gegen Zahlung eines Übernahmepreises zu erwerben. Es ist zwecks Sicherstellung im Grundbuch einzutragen.
3. Die Einverleibung eines Vorkaufsrechts durch ein Verlassenschaftsgericht ist – ohne Rückgriff auf den konkreten Willen des Entscheidungsorgans – als Sicherstellung eines Aufgriffsrechts zu verstehen, wenn die Entscheidung ansonsten gesetzeswidrig wäre.
4. Ein Anspruch auf Einwilligung in die Löschung des Aufgriffsrecht besteht für den Belasteten nur, wenn er dem Begünstigten die Einlösung im Sinne der Bedingungen des Testaments angeboten hat.
(Leitsätze von Till Doyen, Köln)

Vaterschaftsanerkenntnis als Entscheidung i.S.d. § 91a östr. AußStrG
OGH 25.6.2020 – 6 Ob 7/20b
1. Ein vor der ukrainischen Personenstandsbehörde in gemeinsamer Erklärung mit der Mutter abgegebenes Vaterschaftsanerkenntnis stellt eine Entscheidung i.S.d. § 91a östr. AußStrG dar.
2. Ein Verstoß gegen den ordre public i.S.d. § 91a Abs. 2 Nr. 2 östr. AußStrG liegt nicht vor, da auch das österreichische Recht die Möglichkeit kennt, in persönlicher Erklärung die Vaterschaft anzuerkennen (§ 145 östr. ABGB)
3. Der Anerkennung einer Entscheidung steht es gem. § 91a Abs. 2 Nr. 2 östr. AußStrG entgegen, wenn den Parteien kein rechtliches Gehör gewährt wurde. Das ist auch dann der Fall, wenn das betroffene Kind nicht als Partei, ggf. vertreten durch die Mutter als gesetzliche Vertreterin, gehört wurde.
(Leitsätze von Till Doyen, Köln)

 

Welfenschatz, Staatenimmunität und internationales Enteignungsrecht
U.S. Supreme Court 3.2.2021 – No. 19-351 – Federal Republic of Germany et al. v. Philipp et al.
Enteignet ein Staat die eigenen Staatsangehörigen, so ist die Ausnahmeklausel des § 1605(a)(3) FSIA 1976 nicht einschlägig, da die Klausel nur dann eine Ausnahme vom Grundsatz der Staatenimmunität in gerichtlichen Verfahren zulässt, wenn durch die staatliche Maßnahme gegen das internationale Enteignungsrecht, nicht jedoch gegen internationale Menschenrechte verstoßen wird.
(Leitsatz von Aaron Jeschor, Köln)

 

Menschenrechtliche Konzern-Sorgfaltspflicht I: U.K. Supreme Court
U.K. Supreme Court 12.2.2021 – Okpabi and others v Royal Dutch Shell Plc and another [2021] UKSC 3
1. Die Frage, ob eine nigerianische Tochtergesellschaft gemeinsam mit der im Vereinigten Königreich ansässigen Muttergesellschaft von nigerianischen Staatsbürgern vor englischen Gerichten verklagt werden kann, hängt unter anderem davon ob, ob das Verfahren gegen die Muttergesellschaft echte Aussicht auf Erfolg hat. Hierfür ist das Klägervorbingen – als wahr unterstellt – daraufhin zu untersuchen, ob es einen Anspruch begründet.
2. Eine Muttergesellschaft kann sich der Haftung für die Aktivitäten ihrer Tochtergesellschaften nicht bereits dadurch entziehen, dass sie konzernweite Richtlinie aufstellt. Bei der Frage, ob eine Sorgfaltspflicht besteht, ist vielmehr im Einzelfall zu prüfen, inwiefern die Muttergesellschaft die Leitung der relevanten Aktivitäten übernommen oder mit der Tochtergesellschaft geteilt hat.
(Leitsätze von Till Doyen, Köln)

Menschenrechtliche Konzern-Sorgfaltspflicht II: Gerechtshof Den Haag
Gerechtshof Den Haag 29.1.2021 – Oguru, Efanga, Vereniging Milieudefensie v Shell Petroleom N.V. u.a.
1. Nach nigerianischem Recht ist Shell Nigeria für die Ölverschmutzung von Land aufgrund eines Lecks in einer Ölpipeline dann verantwortlich, wenn das Unternehmen nicht „beyond reasonable doubt" darlegen kann, dass das Leck aufgrund von Sabotage durch Dritte entstanden ist.
2. Die Shell-Muttergesellschaft als auch ihre nigerianische Tochtergesellschaft (Shell Nigeria) sind verpflichtet, bessere Warnsysteme in die entsprechende Pipeline einzubauen, um Lecks früher zu bemerken und so ihrer Sorgfaltspflicht nachzukommen.
(Leitsätze von Aaron Jeschor, Köln)

Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO und Zweiparteienfälle
High Court of Justice, Queen's Bench Division 21.12.2020 – Owen v Galgey, [2020] EHWC 3546
Art. 4 Abs. 2 Rom II-VO findet nur auf Zweiparteienfälle – oder zumindest auf Fälle, in denen alle Parteien zum Zeitpunkt des Schadenseintritts ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat haben – Anwendung; die Norm findet keine Anwendung auf Mehrparteienfälle, in denen zwar zwei Parteien ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort im gleichen Staat haben, die anderen Parteien sich aber an verschiedenen Orten im Zeitpunkt des Schadenseintritts gewöhnlich aufhalten.
(Leitsatz von Hanna Freienstein, Köln)

Autonome Auslegung von res iudicata und triple identity test
Cour d'appel (Luxemburg) 29.4.2020 – N° 59/20 IV-COM
1. Die Frage, ob die Rechtskraft eines Urteils (res iudicata) eines deutschen Gerichts der Befassung eines luxemburgischen Gerichts mit der Sache entgegensteht, richtet sich nach europäischem Recht. Der Begriff der res iudicata ist daher autonom auszulegen.
2. Für die Frage, wie weit die Rechtskraft eines Urteils reicht, sind sowohl dessen Tenor als auch der Tatbestand heranzuziehen.
3. Ein rechtskräftiges Urteil steht einer erneuten Entscheidung entgegen, wenn diese dieselben Parteien, denselben Anspruch und denselben Sachverhalt betrifft (triple identity test).
(Leitsätze von Till Doyen, Köln)

Elterlicher Bleibewillen und Bestimmung des gewöhnlichen Kindesaufenthalts
Corte Suprema de Justicia de la Nación Argentina 22.10.2020 – V., M. c. S. Y., C. R. s/ Restitución internacional de niños
Bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Kindern kommt es auf den Bleibewillen der Eltern an einem bestimmten Ort nur dann an, wenn eine klare gemeinsame Absicht der Eltern feststellbar ist.
(Einsenderin: Denise Wiedemann, Leitsatz von Hanna Freienstein, Köln)

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